Eine historische Abstimmung
Im Deutschen Bundestag wird am 2. Juni eine historische Abstimmung stattfinden. Darüber sprach Novosti Armenien – NEWS.am mit Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei und Mitglied des Auswärtigen Ausschuss. Die Abgeordnete antwortete auf Fragen von Novosti Armenien – NEWS.am.
Wie wir wissen, wird im Juni im Bundestag eine Resolution über den Völkermord an Armeniern diskutiert. Welche Erwartungen haben Sie selbst? Steht das V-Wort in der Resolution?
Es wird eine historische Abstimmung werden. Zum ersten Mal wird im Deutschen Bundestag ein Antrag mit Aussicht auf eine übergroße parlamentarische Mehrheit vorliegen, der den Völkermord an den Armeniern klar und unmissverständlich anerkennt. Damit wird nach langer Zeit einer Forderung der Fraktion DIE LINKE Rechnung getragen. Wir haben uns immer gegen die falsche Rücksichtnahme gerade von Union und SPD auf die fortgesetzte Völkermordleugnung durch staatliche Stellen in der Türkei gewandt. Es ist ein Skandal, dass die Große Koalition im Bundestag bisher nicht bereit war, eine Anerkennung des Völkermords auszusprechen, auch um die enge Militärpartnerschaft mit der Türkei im Rahmen der NATO nicht zu gefährden. Jetzt wird der Völkermord bereits im Titel der Resolution benannt. Dies ist ein großer Erfolg. Ein Sieg der Aufklärung. Ein Sieg der Gerechtigkeit.
Was glauben Sie, warum hat Deutschland bis jetzt den Völkermord an Armeniern offiziell nicht anerkannt?
Diese Resolution ist auch ein Sieg über 101 Jahre Völkermordleugnung in Deutschland und vor allem Leugnung der deutschen Mitschuld am Völkermord an den Armeniern. Diese Leugnung gehörte in den letzten einhundert Jahren praktisch zur Staatsräson Deutschlands. Angefangen vom Niederbrüllen des sozialistischen Abgeordneten Karl Liebeknechts durch die anderen Abgeordneten, als er 1916 im Reichstag die Reichsregierung zum Völkermord an den Armeniern befragte. Es war eine deutsche Staatsräson, die selbstverständlich die Tür offen halten wollte für eine imperialistische Politik, wie wir sie auch heute kennen. Der damalige Reichskanzler Bethmann-Hollweg gab damals die Parole aus: „Wir müssen die Türkei bis Kriegsende an unserer Seite halten, auch wenn die Armenier darüber zugrunde gehen“. Heute werden weiter Waffen an die Türkei geliefert, auch wenn die Kurden dabei zugrunde gehen. Heute gibt die deutsche Bundesregierung grünes Licht für Waffenlieferungen an Erdogans Türkei, obwohl sie weiß, dass damit der Krieg gegen die Kurden geführt wird. Sie steht an der Seite des NATO-Partners, obwohl sie weiß, dass von der Türkei aus islamistische Terrorbanden armenische Dörfer wie Kesap in Syrien überfallen und Massaker an Minderheiten verüben. DIE LINKE hatte lange eingefordert endlich auch diese Mitschuld des Deutschen Reiches zu benennen. Auch in diesem Sinne ist die Abstimmung am 2. Juni 2016 eine historische Abstimmung, denn sie bricht mit der deutschen Staatsräson einer Leugnung der Mitschuld des Deutschen Reiches am Völkermord an den Armeniern.
Die Türkei und der Präsident Erdogan fordern Bundestag, das Wort Völkermord in der Resolution nicht zu benutzen. Wie kann die Zustimmung der Resolution auf die deutsch-türkischen Beziehungen auswirken?
Der türkische Staatspräsident Erdogan hat sich zum Sprachrohr der Völkermörder von 1915 gemacht. Dabei geht es ihm allein darum Islamisten und Nationalisten zu Gunsten seines Machterhalts hinter sich zu bringen. Erdogan spricht den Jargon der Völkermörder von 1915. Seine Kritiker bezeichnet er als Terroristen. Die zivilen Toten in den kurdischen Gebieten der Türkei sind im Grunde für ihren Tod selbst verantwortlich. Und so ist es dann auch bei den Armeniern. Die Armenier, so die Völkermordleugner, haben sich ihren Tod selbst zuzuschreiben, weil sie Terroristen sind. Und es ist diese Gleichung, die das Denken der Affirmierung des Völkermords an den Armeniern widerspiegelt. Dieses Völkermorddenken wird wach gehalten in Teilen der türkischen Gesellschaft durch ein ungeheures propagandistisches Trommelfeuer. Ziel ist es, die Zustimmung von großen Teilen der Bevölkerung zu einem Unterdrückungssystem par exellence zu erzielen. Und gerade deshalb ist Aufklärung so wichtig. Und deshalb ist es so wichtig, dass der Deutsche Bundestag nicht vor Erdogan einknickt. Was die Beziehungen angeht, kann sein, dass Herr Erdogan sich daraufhin mit neuen Erpressungsversuchen profiliert. Aber langfristig wird dieser Bruch mit den Mythen zur Verschleierung des Völkermords und der deutschen Mitschuld die deutsch-türkischen Beziehungen stärken. Denn nur eine aufrichtige Anerkennung und Aufklärung kann den Weg zur Versöhnung und einer gemeinsamen Zukunft bahnen.
Quelle: NEWS.am