Alle Karten in Erdogans Hand

Von Sevim Dagdelen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bleibt im Amt. Der Staatschef hat die Stichwahl am Sonntag mit 52,18 Prozent gewonnen, sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu ist mit 47,82 Prozent unterlegen. Die Enttäuschung bei der Opposition ist riesengroß und viele politischen Beobachter sind ernüchtert, hatten sie doch nach 20 Jahren Erdogan-Herrschaft einen Wechsel in Ankara prognostiziert.

Erfolge in Anatolien und Almanya

Erdogan hat am Sonntag 27,8 Millionen Stimmen erhalten, Kilicdaroglu 25,5 Millionen. Im Wesentlichen konnte er also den Zwei-Millionen-Stimmen-Vorsprung aus dem ersten Wahlgang am 14. Mai halten. Das ist angesichts der miserablen wirtschaftlichen Situation mit der hohen Inflation, die die einfache Bevölkerung trifft, ein großer Erfolg. Zwei Faktoren waren entscheidend: Erdogan hat erfolgreich seine Wähler mobilisiert und weitere islamistische und rechtsextreme Parteien in seine Koalition eingebunden. Die Wähler in seinen Hochburgen haben den Ausschlag gegeben: in Anatolien und im Ausland, vor allem in Deutschland. Hier hat Erdogan fast die Hälfte aller Auslandsstimmen für sich geholt. In „Almanya“ kann der Autokrat als Resultat eines jahrelangen Duldens und staatlichen Förderns über seine Netzwerke ungestört agieren.

Vergeblich hat Kilicdaroglu am Ende versucht, selbst auf den rechtsextremen Kurs aufzuspringen, und sich zugleich durch seine unheimliche Nähe zu den USA als Gefolgsmann von Präsident Joe Biden darstellen lassen. Das war, zusammen mit den Ankündigungen seines designierten Finanz- und Wirtschaftsministers, Sozialleistungen, die an 30 Millionen Türken gehen, streichen zu lassen, einfach tödlich.

Zwei-Drittel-Erfolg in Deutschland

Insgesamt 509.302 (67,2 Prozent) Wähler in Deutschland haben für Erdogan gestimmt, Kilicdaroglu hat 248.329 Stimmen (32,8 Prozent) bekommen. Für das überdurchschnittliche Abschneiden des türkischen Autokraten gibt es sicherlich viele Gründe. Entscheidend aber ist die Migrationsgeschichte aus konservativen Regionen der Türkei und die Tatsache, dass man diese Leute Erdogan und seiner islamistischen AKP völlig zur Beeinflussung überlassen hat. Die staatliche Religionsbehörde Erdogans agiert in Deutschland wie ein Staat im Staat.

Dieselben, die sich jetzt wortreich über den Erdogan-Erfolg beklagen, haben nie etwas gegen das Erdogan-Netzwerk und die 900 Moscheevereine unternommen, die von Ankara aus kontrolliert werden. Auch die Ampel-Regierung legt hier die Hände in den Schoß. Das Verbot der faschistischen Gruppierung „Graue Wölfe“ ist bis heute nicht durchgesetzt. Deshalb hat Erdogan in Deutschland eine noch stärkere Durchgriffswirkung, auch mit allen Medien, die er kontrolliert.

Wenn man jetzt einer „Zeitenwende“ im Umgang mit der Türkei das Wort redet, ist das leider nicht glaubwürdig, weil noch nicht einmal die Instrumente genutzt werden, die man in der Hand hat. Man spielt Erdogans Spiel mit. Nach dem Motto „Ein NATO-Partner hackt einem anderen kein Auge aus“ lässt man den Autokraten gewähren. Mit verheerenden Folgen in Deutschland.

Neuausrichtung der Türkeipolitik

Die Türkei soll in der NATO gehalten werden, um jeden Preis. Und so wundern die Glückwünsche von US-Präsident Joe Biden, von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Kanzler Olaf Scholz oder Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nicht. Prinzipienlosigkeit feiert hier fröhlich Urstand. Erdogans Völkerrechtsbrüche, seine Kriege gegen die Nachbarländer Syrien und Irak, seine Drohungen mit Krieg gegen die EU-Mitglieder Griechenland und Zypern – sie interessieren nicht und werden unter den Tisch gekehrt. Diese prinzipienlose Außenpolitik kann so wenig gut gehen, wie die moralisch belehrende.

Ich plädiere für eine Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik. Man darf die Interessen der Bevölkerung hier nicht weiter missachten. Was in der Türkei geschieht, ist die souveräne Entscheidung der Bevölkerung dort. Aber für seine Völkerrechtsbrüche und Kriege darf Erdogan nicht auch noch Waffen aus Deutschland bekommen. Ein Waffenstopp der Ampel wäre von hohem Symbolwert.

Ich plädiere auch dafür, die Finanzhilfen einzufrieren. Der EU-Beitrittsprozess ist tot. Das sagt nur keiner. Wer dafür im Übrigen einseitig den Westen verantwortlich macht, hat von der Türkei leider nicht viel verstanden. Die Europäer haben Erdogan gegen das Militär konsolidiert. Dazu hatte Erdogan den Beitrittsprozess genutzt. Als er das Militär mit eigenen Leuten besetzt hatte, brauchte er diese Rhetorik nicht mehr. Viele verstehen das leider immer noch nicht. Erdogan ist durch und durch ein Moslembruder. Demokratie diente ihm immer nur als Vehikel, um sein islamistisch-autoritäres System zu errichten.

Erdogan versteht es geschickt, die selbstzerstörerischen Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland zu nutzen, um sich als für die Türkei profitabler Vermittler anzubieten. Es hat seinem Herausforderer Kilicdaroglu nicht genutzt, dass er gesagt hat, er würde die Sanktionen des Westens umsetzen. Vielen Menschen war klar, dass damit weiter explodierende Preise für Energie und Lebensmittel verbunden sind, und sie haben dann aus ihrer Sicht für das kleinere Übel gestimmt.

In der Türkei ist jetzt aus Oppositionskreisen zu hören, Erdogan habe ja keinen großartigen Sieg erreicht und das Präsidentenamt noch dazu erst in einer Stichwahl verteidigt. In zwei Jahren werde es schon wieder zu Neuwahlen kommen.

Tatsächlich ist seit 2016 zu hören, Erdogan sei geschwächt und bald am Ende. Das ist leider mit der Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen. Tatsächlich ist seine Koalition breiter aufgefächert denn je. Und was den Wahlsieg angeht, ist es egal, ob man 5 zu 0 oder 4 zu 3 gewinnt. Am Ende bleibt: Erdogan kann weitermachen. Er hat weiter alle Karten in der Hand, die gesamte Medienmaschine in der Türkei. Und in Deutschland eine Bundesregierung, die seine Netzwerke nicht antastet. Schwäche sieht anders aus. Und was die wirtschaftliche Lage angeht, kann er immer nach Deutschland mit seiner Rezession und den anhaltenden Reallohnverlusten zeigen und den Menschen sagen: Seht ihr, wenn wir auf Kilicdaroglu und seine Sanktionen gehört hätten, wäre es noch schlimmer gekommen.

Sevim Dagdelen ist Obfrau der Fraktion DIE LINKE im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages.

Quelle: Overton

 


Foto: Foto: kremlin.ru, (CC BY 4.0) https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de

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