Aufgespannter Schutzschirm statt politischer Konsequenzen

Von Sevim Dagdelen

Wie die Bundesregierung die Angriffe auf die Pressefreiheit in der Türkei bewertet, wollte die Linksfraktion in einer kleinen Anfrage (Drucksache 18-7933) wissen. Die insgesamt 40 Fragen dazu wurden am 18. März 2016 eingereicht. Fünf Wochen – statt der vorgesehenen zwei – hat sich das Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel Zeit gelassen für eine Reaktion. Wort für Wort wurde wohl genau abgewogen, um den neu gewonnenen Partner bei der Flüchtlingsabwehr nicht zu verärgern. In der Zwischenzeit war der deutsche Botschafter Martin Erdmann gleich mehrfach ins türkische Außenministerium in Ankara einbestellt worden. Etwa, weil sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan durch das Lied »Erdowie, Erdowo, Erdogan« aus dem NDR-Satiremagazin »Extra 3« beleidigt fühlte, oder weil der Diplomat dem Politprozess gegen die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül in Istanbul beiwohnte. In die lange Zeit der Beantwortung fiel zudem die Affäre um das vom ZDF-Satiriker Jan Böhmermann vorgetragene Gedicht »Schmähkritik«. Merkel persönlich hat ihren Partner Erdogan zur Verfolgung des Komödianten wegen »Majestätsbeleidigung« ermächtigt.

Die Bundesregierung äußert in der Antwort auf die kleine Anfrage ihre »Sorge«, stellt »Defizite« in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei fest. Sie »teilt die Kritik« der EU-Kommission, geäußert in deren Fortschrittsbericht vom November 2015, der »Rückschritte im Bereich der Meinungsfreiheit benennt«. Sie will den Prozess gegen Can Dündar und Erdem Gül »aufmerksam verfolgen« – nur politische Konsequenzen will sie eben keine ziehen. Der politische Schutzschirm über Erdogan bleibt weiter aufgespannt. Was tun, wenn der Autokrat ankündigt, Urteile des türkischen Verfassungsgerichts nicht zu akzeptieren, sollten sie ihm nicht passen? »Die Bundesregierung setzt sich für die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz ein.« Beides »sind Themen bilateraler Gespräche mit türkischen Regierungsvertretern«.

Die Linksfraktion fragte auch nach Schlussfolgerungen und Konsequenzen des Kabinetts nach der Erstürmung der Redaktion der Tageszeitung Zaman am 4. März 2016 durch bewaffnete Polizeikräfte und deren Zwangsverwaltung durch die türkischen Behörden. geantwortet wurde: »Die Bundesregierung setzt sich in Gesprächen regelmäßig und ausdrücklich für Verbesserungen im Bereich der Presse- und Meinungsfreiheit ein.«

In der Türkei, die Mitglied der NATO ist und der EU beitreten möchte, haben in den vergangenen Jahren mehrere Journalisten ihre kritische Berichterstattung über die islamistische Terrorgruppe »Islamischer Staat« (IS) und deren Unterstützung durch den türkischen Geheimdienst mit ihrem Leben bezahlt: In der südtürkischen Stadt Sanliurfa wurden im Oktober der syrische Journalist Ibrahim Abdul Kader und sein Freund Fares Hamadi, die als Mitglieder in der Dokumentargruppe »Raqa Is Being Slaughtered Silently« (»Rakka wird lautlos abgeschlachtet«) Greueltaten des IS enthüllt hatten, enthauptet. »Der Bundesregierung liegen hierzu keine eigenen Erkenntnisse vor«, heißt es. Ende Dezember 2015 wurde der syrische Dokumentarfilmer Nadschi Dscherf im türkischen Gaziantep auf offener Straße erschossen – »keine Erkenntnisse«. Außerdem gibt es keine über die Todesumstände der ehemaligen BBC-Journalistin und UN-Mitarbeiterin Jacqueline Sutton, die in der Nacht zum 18. Oktober 2015 am Atatürk-Flughafen in Istanbul erhängt aufgefunden worden ist. Und der Bundesregierung liegen auch »keine eigenen Erkenntnisse vor, die über die Medienberichterstattung hinausgehen« zu den Todesumständen der Reporterin des iranischen Fernsenders Press TV, Serena Shim. Sie wurde nach Recherchen über IS-Aktivitäten im türkisch-syrischen Grenzgebiet nach eigenen Angaben vom türkischen Geheimdienst als Spionin beschuldigt. Sie starb am 19. Oktober 2014 in Suruc bei einem Unfall mit einem Betonmischer. Wenn die Bundesregierung ihre »eigenen Erkenntnisse« schon auf Medienberichte stützt, sollte sie vielleicht einmal damit anfangen, die Pressefreiheit in der Türkei mit Nachdruck zu verteidigen.

Zur anhaltenden Gewalteskalation im Südosten der Türkei gibt es in Berlin dagegen eine dezidierte Position und einseitige Parteinahme: Die Bundesregierung stellt fest, ist in der Antwort auf die Linke-Anfrage schließlich zu lesen, »dass die PKK sofort ihre Angriffe auf Zivilisten und Sicherheitskräfte einstellen muss«. Und sie »ruft die türkische Regierung dazu auf, schnellstmöglich zu Friedensgesprächen zurückzufinden und bei ihrem Vorgehen gegen die PKK das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu beachten«. Die Stadtverwaltung von Diyarbakir hat gerade appelliert, sich vor Ort ein eigenes Bild von den Zerstörungen zu machen, die während der mehrmonatigen Belagerung der Altstadt Sur durch Erdogans Truppen angerichtet wurden. Vielleicht sollte die Bundesregierung die Gelegenheit nutzen, um sich endlich »eigene Erkenntnisse« zu verschaffen.

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