Mündliche Frage PlPr 17/86: Vereinbarkeit eines Strafprozesses gegen die Soziologin Pinar Selek mit der Feststellung des Auswärtigen Amtes über Fortschritte im Menschenrechtsbereich in der Türkei
Wie ist nach Ansicht der Bundesregierung die vom Großen Strafsenat des Kassationsgerichtshofs in Ankara beschlossene Einleitung eines Folgeverfahrens gegen die türkische Soziologin P. S. mit der Feststellung des Auswärtigen Amts in Einklang zu bringen, die Türkei habe im Menschenrechtsbereich viele Reformen in Angriff genommen, und diese hätten bezüglich der „Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter" viele Verbesserungen gebracht (www.auswaertiges-amt.de), und gedenkt sie, im Rahmen bilateraler Beziehungen die türkische Regierung darauf hinzuweisen, dass ein Strafprozess, bei dem sich die Beweisführung der Staatsanwaltschaft auf erfolterte Aussagen stützt, einen Verstoß gegen Art. 15 der Anti-Folter-Konvention darstellt, die auch in nationales türkisches Recht umgesetzt wurde?
Antwort Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt:
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Zum ersten Teil Ihrer Frage antworte ich ganz kurz. Wir geben zu laufenden Gerichtsverfahren grundsätzlich keine Stellungnahmen ab.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage – das ist ja der bittere Gehalt dessen, was Sie eigentlich ansprechen –: Der Bundesregierung sind die Berichte in den Medien über die Folter von Frau Selek bekannt. Die Bundesregierung verfügt nicht über eigene Erkenntnisse hierzu. Die Bundesregierung erwartet, dass im laufenden Verfahren keine Beweise Verwendung finden, die unter Folter erlangt worden sind.
Man muss ja sehen – das sei den Kolleginnen und Kollegen, die mit dem Fall nicht so vertraut sind, gesagt –, dass dieses Verfahren jetzt schon durch mehrere Instanzen gegangen ist und dass immer wieder Entscheidungen von der nächsten Instanz aufgehoben worden sind. Insofern ist der Rechtsweg schon vor einiger Zeit beschritten worden. Die Bundesregierung thematisiert die Menschenrechtslage in der Republik Türkei sowohl in bilateralen Gesprächen als auch auf EU-Ebene. Sie erkennt die Bemühungen der türkischen Regierung zur Verbesserung der Menschenrechtslage in den letzten Jahren an.
Die überarbeitete Beitrittspartnerschaft 2008 mit der Türkei enthält einen an die aktuelle Lage angepassten Katalog mit konkreten Vorgaben im Menschenrechtsbereich. Vor dem Hintergrund dieser Erwartung setzt sich die Bundesregierung auf allen Ebenen auch weiterhin für die notwendigen weiteren Verbesserungen der Menschenrechtslage in der Türkei ein.
Ich glaube im Übrigen, dass wir nur dann, wenn wir die von der Kommission im Fortschrittsbericht ausdrücklich festgestellten Verbesserungen anerkennen, eine Chance haben, bei unseren türkischen Freunden tatsächlich dafür zu werben, dass sie auf diesem Weg weitermachen müssen; auf dieser Basis können wir dann auch im konkreten Fall helfen.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Herr Staatsminister, Sie werden mir vielleicht zustimmen, dass die Zivilgesellschaft in der Türkei das Zitat aus dem Fortschrittsbericht ein bisschen anders sieht; darin kommt auch eine mangelhafte Umsetzung von Menschenrechtskonventionen zum Ausdruck. Die Bundesregierung hat erklärt, dass dort große Fortschritte gemachtGewerkschaften, Oppositionelle und viele andere Verbände und Organisationen in der Türkei also ein bisschen anders.
Ich möchte Sie nur ganz kurz fragen: Mir ist klar, dass die Bundesregierung zu laufenden Gerichtsverfahren keine Bemerkungen machen möchte. Das hat sie uns auch in der Antwort mitgeteilt. Am vergangenen Montag aber hat die Vorsitzende der Delegation im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei, Frau Hélène Flautre, in Istanbul eine Pressekonferenz zum Fall von Pinar Selek gemacht, in der sie von ihrem Gespräch mit dem dortigen Justizminister berichtet hat, der ihr auch gesagt habe, dass man sich zum laufenden Verfahren natürlich nicht äußere. Sie hat daraufhin erklärt, dass man das nicht erwartet – das teile ich –, man aber schon erwartet, dass Gerichte darauf hingewiesen werden, dass auch nach türkischem Recht durch Folter erzwungene Aussagen in Gerichtsverfahren nicht verwendet werden dürften.
Deshalb lautet meine Frage: Hat die Bundesregierung im letzten Jahr – das läuft seit einem Jahr; der nächste Prozesstag ist der 9. Februar – in bilateralen Gesprächen vielleicht einmal den Hinweis gegeben, dass man unter Folter erzwungene Aussagen vor Gericht nicht verwenden darf?
Antwort Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt:
Eindeutig ja. Ich bin im Übrigen in der Sachfrage mit den von Ihnen zitierten NGOs sehr einig. Ich begrüße es auch, wenn Kolleginnen aus dem Europäischen Parlament gegenüber einer Soziologin, einer Bürgerin der Türkei, Solidarität beweisen, die mit Folter bedroht worden ist oder die der Folter unterworfen worden ist. Wenn das der Fall ist, dann verdient diese Dame unsere Solidarität. Da sie aber weder deutsche noch EU-Staatsbürgerin ist, haben wir keine unmittelbaren Möglichkeiten, aufgrund von internationalen Konventionen einzuwirken, zum Beispiel auf den Zugang und Ähnliches. Das ist eine schwierige Situation.
Es ist völlig klar, dass wir nicht nur abstrakt die Verbesserung der Gesetzeslage in der Türkei sehen – da hat die EU-Kommission nach meiner Auffassung recht: Die Türkei hat sich sehr darum bemüht, ihre Rechtsordnung dahin gehend weiterzuentwickeln und zu verbessern –, sondern auch den Unterschied hinsichtlich der Implementierung; Sie haben ja von der Anwendung von Gesetzen gesprochen. Da liegt noch sehr vieles im Argen. Das wird von der Bundesregierung in einer Vielzahl von Gesprächskontakten, die es mit der Türkei immer wieder gibt, zum Ausdruck gebracht.