Brief der Internationalen Liga für Menschenrechte
Sehr geehrte Frau von Bremen, sehr geehrter Herr Schöps, sehr geehrter Herr Wessel,
Ihr Offener Brief an die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen hat uns schockiert!
In Ihrer kurzen, zugleich fundamental einseitigen Schmähschrift stellen Sie unter anderem gegenüber Frau Dagdelen fest: „Sie haben denen, die überlebt haben, den Respekt verweigert, unseren haben Sie restlos verloren."
Anmaßend finden wir – die Unterzeichnende Fanny-Michaela Reisin ist jüdische Nachgeborene – die Selbstverständlichkeit, mit der Sie für die jüdischen Überlebenden sprechen. Es gibt sie nicht, die von Ihnen herbeigeschriebene homogene Gruppe jüdischer Überlebender.
Es gibt – wie übrigens in jeder anderen Religionsgemeinschaft und sicher in Ihren Gemeinden auch – unterschiedliche Überlebende mit sehr verschiedenen Biographien, Empfindungen, Weltanschauungen sowie gesellschaftlichen und politische Positionen. Die öffentliche Darlegung Ihrer völlig haltlosen Zornesausbrüche im Namen der Überlebenden blendet diese Tatsache aus. Sie ist erschreckend, weil sie jene Geringschätzung von Menschen jüdischer Herkunft zum Ausdruck bringt, die wir in dieser Republik und namentlich in Kirchengemeinden überwunden glaubten.
Immerhin zählen zu den Unterzeichnern einer Erklärung, die anlässlich des Peres-Besuchs in Deutschland von etwa 50 Israelis unter dem Titel „Shimon Peres spricht nicht in unserem Namen!" auf den Weg gebracht wurde, mehrere bekannte jüdische Überlebende der Nazibarbarei.
Darunter Peretz Kidron, der sich nach Großbritannien rettete, Moshe Langer, der fünf Vernichtungslager überlebte und Felicia Langer, die bekannte Laureatin des alternativen Friedensnobelpreises, des Sacharow-Preises sowie des Verdienstkreuzes 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland.
In der Erklärung heißt es u. a.: „Wenn Präsident Shimon Peres in Berlin landet, sollte ihn keiner, der es ehrlich meint, automatisch mit Lob überhäufen, sondern ihn höflich aber bestimmt fragen, warum er Mitglied und dienstältester Propagandist von israelischen Regierungen war, die Cluster- Munition, Pfeilgeschosse und weiße Phosphorbomben in dicht besiedelten Wohngebieten in Gaza und Libanon eingesetzt, immer mehr Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten gebaut und getrennte Rechtssysteme für israelische Siedler und ihre palästinensischen Nachbarn verhängt haben. Man kann ihn auch fragen, warum er die Verschleppung und Misshandlung eines israelischen Bürgers in Rom (Mordechai Vanunu im September 1986) autorisiert hat – eine eindeutige Verletzung internationalen Rechts – und warum es für einen Staat im Nahen Osten zulässig sein soll, Atomwaffen zu besitzen, was zwangsläufig einen gefährlichen Rüstungswettlauf in dieser explosiven Region auslöst (…)"
Auch der Duktus Ihres Vorbringens ist für Würdenträger einer Religionsgemeinschaft mehr als erstaunlich. Sie versagen Frau Dagdelen „restlos" Ihren Respekt. Steht sie nun mit Ihrem Segen am Pranger? Wir empfehlen dringend eine selbstkritische Sicht auf diese Ihre Aussage, nicht zuletzt unter Bezugnahme etwa auf die Bibel – in beiden Traditionen, der jüdischen und der christlichen werden Sie wichtige Hinweise zum Gebot des würdigen Umgangs mit dem oder der „Nächsten" finden; gerne auch auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder einfach auf die ersten Artikel zu Würde und Freiheit im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Nun hat aber die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen zu keiner Zeit den Überlebenden der Nazibarbarei den Respekt verweigert.
Nicht bei der Gedenkveranstaltung im Bundestag am 27. 01. 2010, nicht zuvor, und nicht danach.
Somit ist der erste Teil des zitierten Satzes schlicht unwahr. Das wissen Sie sehr genau. Bereits einmal mussten Sie nach der Veröffentlichung Ihres Schmähbriefs eingestehen, dass Sie es dort mit der Darstellung der Realität nicht ganz so genau genommen haben: Am 11.02. haben Sie öffentlich Ihre Behauptung widerrufen, die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen sei nicht aufgestanden, als Shimon Peres während seiner Rede das jüdische Gebet für die Toten, das Kaddisch, sprach.
Leider haben Sie diese Gelegenheit nicht zur Umkehr genutzt, um eigene Fehler einzugestehen und sich bei Frau Dagdelen für Ihre Schmähungen zu entschuldigen. Sie zogen es vor, den Weg der Selbstgerechtigkeit weiterzugehen. Damit wecken Sie – gewollt oder nicht – den Verdacht, dass Sie die entfachte Diffamierungskampagne gegen die Bundestagsabgeordnete Dagdelen weiter zu betreiben entschlossen sind. Ist das Ihr vorbereitender Beitrag im Hinblick auf die Veranstaltungsreihe „Kirche der Kulturen" im Rahmen der „Kulturhauptstadt RUHR 2010", an der Ihre drei Kirchengemeinden beteiligt sind? Sie wissen nur allzu gut, warum sich die Bundestagsabgeordnete am Ende der Rede des israelischen Präsidenten nicht erhob. Schließlich hatte Frau Dagdelen in ihrer öffentlichen Erklärung vom 05. 02. öffentlich dargelegt, „dass Shimon Peres seine Rede zur ideologischen Vorbereitung auf einen Krieg gegen den Iran genutzt hat. In seiner Rede hat Peres fälschlicherweise den Iran beschuldigt, im Besitz von Nuklearwaffen zu sein. Dazu kam eine Gleichsetzung des Irans mit Nazideutschland, die ich für fatal halte."
Wir erinnern uns, sehr geehrter Herr Schöps, dass Sie sich anlässlich des drohenden Krieg gegen den Irak zu Wort meldeten und den Mut zum öffentlichen Protest hatten. Was ist mit Ihnen seit dieser Zeit geschehen? Vor wem verteidigen Sie heute Shimon Peres? Zu wem sprechen Sie in Sachen Sevim Dagdelen? Zur Parteiführung der LINKEN vor dem Hintergrund der NRW-Wahlen?
Es ist zu hoffen, dass Frau Pau sich durch dieses Manöver, für das Sie auch noch den Auschwitzüberlebenden Imre Kertesz vereinnahmen, nicht beeindrucken lässt. Dass Sie überdies noch die großartige Philosophin Hannah Arendt – die sich nicht mehr wehren kann – benutzen, um Frau Dagdelen in die Nähe des Bösen zu rücken, ist aberwitzig. Hier kommt ein weiteres Mal Ihre Geringschätzung Andersdenkender zum Ausdruck. Hannah Arendt stand zunächst den zionistischen, und dann nach 1948 den offiziellen israelischen Politikentwürfen skeptisch gegenüber.
Dies alles macht Ihren Brief – zumal aus einem jüdischen aufgeklärten Standort – zum Ärgernis.
Um eine kritische Stimme innerhalb der LINKEN ausgrenzen zu helfen, bedarf es keineswegs des Mutes, den es braucht, um einen von langer und mächtiger Hand gewollten Krieg zu verhindern. Es genügt das Ansinnen und, wie wir Ihrem Offenen Brief entnehmen, des Zusammenschlusses dreier Gleichgesinnten in Kirchenfunktionen. Erfreulicherweise wissen wir von vielen Freunden und Freundinnen Ihrer Kirchen, dass nicht wenige auch hier die Politik Israels ganz im Unterschied zu Ihnen durchaus kritisch beurteilen.
Es stellt sich zudem die Frage: Ist für den Iran nicht Recht, was für den Irak billig war? Damit wir uns richtig verstehen: Irak wurde von einer grausamen Diktatur regiert, wie sie ähnlich in Iran schon damals herrschte und bis heute an der Macht ist. Unsere Solidarität galt nicht den Mördern in Bagdad von damals und gilt nicht den mörderischen Unterdrückern in Teheran heute. Vielmehr und durchaus im Gedenken an die Opfer des nazideutschen Völkermordes gilt unsere Solidarität allen Menschen, die unter Menschenrechtsverletzungen und Krieg zu leiden haben.
Wir halten dafür, dass die Charta der Vereinten Nationen für alle Staaten (die Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland, Russland, China, Israel wie auch Iran) bindend ist und konnten daher Ihre Anmahnung im Jahre 2003 sehr wohl teilen: „Die Charta der Vereinten Nationen verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, ihre Konflikte friedlich beizulegen." In eben dieser wichtigen Übereinkunft ist doch aber unmissverständlich festgeschrieben, dass „ein Krieg allein zum Zwecke des Regimewechsels in einem anderen Staat nicht in Frage kommen" kann und „schon gar nicht die willkürliche Ausweitung des nach dem Völkerrecht äußerst eng begrenzten Begriffes der Prävention."
Frau Dagdelen hat auf ihre Art kritische Fragen gestellt und, indem sie sich am Ende der Rede von Herrn Peres nicht erhob, dem Rahmen der Veranstaltung am 27. 01. 2010 durchaus angemessen gehandelt. Ihr Verhalten ist gerade deshalb zu loben, weil der israelische Präsident – so ist zu vermuten – von den „höflichen, aber bestimmten Fragen" unserer israelischen Freundinnen und Freunde, während seines gesamten Staatsbesuchs ansonsten nichts gehört hat. Frau Dagdelen und die anderen Abgeordneten, die ihrem Gewissen folgend nicht aufstanden, um Herrn Peres zu feiern, haben zudem den moralisch notwendigen Job für eine Kanzlerin mit besorgt, die nach eigenem Bekunden und zum Entsetzen einer Reporterin der New York Times neun Tage zuvor nicht einmal die Kraft aufbrachte, den israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu auf die anhaltende inhumane Blockade der 1,5 Millionen Menschen im Gazastreifen anzusprechen.
Nun steht es Ihnen zweifellos zu, dies alles ganz anders zu sehen und sich kritisch zu Wort zu melden. Selbstverständlich haben Sie auch ein Recht auf Polemik. Die Form der Diffamierung und Ausgrenzung der Abgeordneten Dagedelen, die Sie gewählt haben und auch in Ihrem Widerruf nicht selbstkritisch zu überwinden vermochten, ist unvertretbar und insbesondere Ihres Berufes wegen unwürdig!
In Ihrem Brief rücken Sie Frau Dagdelen in die Nähe von Antisemiten und überhöhen dies noch, indem Sie ihr unterstellen, dass sie den Antisemitismus womöglich nur benutze. Wir müssen davon ausgehen, dass Sie um die Problematik solcher haltlosen Polemik wissen. Indem Sie sich in Ersetzung fehlender Argumente der Vorhaltung von Antisemitismus bedienen, fördern Sie – dies gewiss ungewollt – die Bagatellisierung tatsächlicher Antisemiten und Nazis. Denn Sie helfen mit, den Protest und Widerstand gegen diese widerwärtigen politischen Strömungen zu entwerten – Sie schwächen ihn. Wenn geäußerte Kritik an der Politik Israels oder an ihren Funktionsträgern mit dem Vorwurf des Antisemitismus bedacht wird, können die Neonazis und wirklich antijüdischen Rassisten als Sieger vom Platz gehen.
Nicht zuletzt auch aus diesem Grunde appellieren wir an Sie, die Kraft für eine Umkehr aufzubringen und sich bei Frau Dagdelen für die Diffamierung ihrer Person zu entschuldigen!
Nein, wir haben Ihnen gegenüber nicht jeden Respekt verloren, und schon gar nicht „restlos".
Ihnen als Vertreter der Kirche zu vertrauen sähen wir uns allerdings – das werden Sie sicher verstehen – erst dann wieder in der Lage, wenn Sie eine Form fänden, Ihre Schmähschreiben und mithin die unhaltbare Beleidigung der Abgeordneten Dagdelen öffentlich und überzeugend zu korrigieren.
Hochachtungsvoll
Fanny-Michaela Reisin (Präsidentin der Liga und Mitglied der Jüdischen Stimme – EJJP Deutschland)
Martin Forberg (Mitglied der Liga und des Arbeitskreises Nahost)
Den Brief finden Sie auch im Anhang im PDF-Format.