Brutale Doppelmoral

Von Sevim Dagdelen

Die völkerrechtswidrige Invasion Aserbaidschans in Bergkarabach, die 200 Tote und 400 Verletzte binnen 24 Stunden forderte – umgerechnet auf die Bevölkerungszahl in Deutschland wären das 340.000 Opfer! – ist allein verstehbar, wenn man die Rolle von Bundesregierung und EU-Kommission dabei mit ins Blickfeld nimmt. Völkerrechtswidrig? Ja sicher, unter eklatanter Verletzung der Madrider Prinzipien von 2007 der Minsk-Gruppe der OSZE in Verbindung mit dem Waffenstillstandsabkommen von 2020, die einen Verzicht auf eine militärische Lösung des Konflikts beinhalten.

Während Baku Städte und Dörfer wie auch einen Stützpunkt der russischen Friedenstruppen attackierte und per Ultimatum eine Kapitulation forderte, sonst würden Bodentruppen den Rest besorgen, verlegten sich Bundesregierung und EU-Spitze auf eine überaus durchsichtige Wortwahl, um den Angriffskrieg Aserbaidschans zu kritisieren. Bundeskanzler Scholz forderte ein »Ende der Kampfhandlungen«, Außenministerin Baerbock wollte den »Beschuss« stoppen, und EU-Ratspräsident Michel versteifte sich auf den Terminus der »Militäraktion«. In der Folge verständigte man sich in der EU, einfach nichts zu tun. Nicht einmal für ein symbolisches Waffenembargo reichte es. Denn im Wirtschaftskrieg gegen Russland ist Baku einfach zu wichtig für Berlin und Brüssel geworden. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte im vergangenen Jahr durch eifriges Antichambrieren einen Gasdeal mit dem Familienclan der Alijews abgeschlossen. Aber auch die Bundesregierung hatte mit ihrem Botschafter Ralf Horlemann in Aserbaidschan durch seinen Besuch im bereits 2020 eroberten Schuschi in Bergkarabach Zeichen gesetzt, dass man jede noch so perfide Schandtat durchwinken würde. Die Menschen in Bergkarabach sind nunmehr auch die Opfer einer europäischen Außenpolitik geworden, die mit brutaler Doppelmoral ausgestattet allein finsteren geopolitischen Maßgaben folgt. Oder anders ausgedrückt, im Ringen gegen den Einfluss Russlands wird von den USA, der Bundesregierung und der EU-Kommission jedes Verbrechen im Einzelfall besehen.

Nach allem, was wir aber wissen, ist der Angriff auf Bergkarabach erst der Anfang. Schenkt man den Worten der Regierung in Baku Glauben, droht schon binnen kurzem die Invasion Aserbaidschans im Süden Armeniens, um einen Landkorridor zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan und zum eifrigsten Unterstützer Bakus, dem NATO-Mitglied Türkei, zu schaffen. Wer wie der armenische Präsident Paschinjan seine Hoffnungen auf eine Unterstützung des Westens gegenüber Aserbaidschans Angriffen setzt, dürfte sich auch in diesem Fall bitter getäuscht sehen. Zu groß ist das Interesse, auch aus Washington, hier künftig gegen den Iran, der im Süden an Armenien grenzt, zündeln zu können, wie auch Russland, das eine Militärbasis in Armenien hat, aus der Region verdrängen zu können.

Quelle: junge welt


Foto: https://president.az/az/articles/view/56689

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