Bundestagsabgeordnete Dagdelen: Migranten immer noch benachteiligt

Bochum (dpa/trs) – Sevim Dagdelen ist die einzige Bundestagsabgeordnete mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren ist. Die 33 Jahre alte Duisburgerin trat 2005 den Linken bei und zog über die NRW-Landesliste direkt in den Bundestag ein. Seitdem ist sie die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Im Interview mit dem deutsch-türkischen Dienst der dpa spricht Dagdelen über ihren Weg in die Politik, die Integrationspolitik der Bundesregierung und die Finanzkrise.

Frau Dagdelen wie hat sich Ihr Einstieg in die Politik vollzogen?

Dagdelen: Die Brandanschläge der Neofaschisten gegen Flüchtlinge und Migranten in Solingen, Mölln und Rostock haben mich politisch aktiviert. In der örtlichen Antifa (antifaschistische Gruppierung) in Duisburg und der Migrantenselbstorganisation DIDF habe ich begonnen, mich gegen Faschismus und Rassismus zu engagieren.

Oft wird jungen Abgeordneten vorgeworfen, sie hätten keine Lebenserfahrung. Stichwort «Vom Kreissaal zum Hörsaal in den Plenarsaal». Wie war das bei Ihnen?

Dagdelen: Ich komme aus einer Arbeiterfamilie mit einem Alleinverdiener. Als eines von sechs Kindern musste ich mich um mein Taschengeld selbst kümmern. Ich fing bereits mit 16 Jahren an zu arbeiten. In einer Reinigungsfirma im Düsseldorfer Flughafen habe ich an Wochenenden Flugzeuge geputzt. Die Lohn- und Arbeitsbedingungen waren haarsträubend. Auch während meines Jurastudiums musste ich wie viele andere auch immer nebenher arbeiten.

Glauben Sie, die Linke kann die Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland ändern, vor allem jetzt in der Krise?

Dagdelen: Der entfesselte Kapitalismus, der uns die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten 80 Jahre beschert hat, ist kein Schicksal. Er ist das Ergebnis von Politik der Konservativen, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen. (…) Die Linke steht für einen Neuanfang. Wir wollen den Kapitalismus überwinden. Das erstaunliche ist ja, dass de facto nichts passiert. Praktisch geht alles so weiter, wie vor der Finanzkrise. Trotz aller Versprechen, werden die Finanzjongleure nicht an die Kandare genommen. Der Steuerzahler hat das alles auszubaden. Damit muss Schluss sein. Für die Krise sollen diejenigen bezahlen, die sie verursacht haben.

Ihrer Partei wird aber immer wieder vorgeworfen, ihre Forderungen seien nicht finanzierbar.

Dagdelen: Wir wollen ein Schutzschirm für Arbeit, statt einem Schutzschirm für die Renditejäger. Wir wollen den gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro und tariflich bezahlte Arbeit statt Lohndumping und Leiharbeit. Die Linke will soziale Sicherheit statt Maximalprofite und deshalb mehr öffentliches Eigentum schaffen statt Kapitalmacht und Privatisierungen. Und natürlich wollen wir Hartz IV abschaffen, weil wir für den Schutz der Menschenwürde sind. Möglich und finanzierbar sind all diese Forderungen unter anderem mit einer Millionärssteuer und Börsenumsatzsteuer. Allein unsere Millionärssteuer von gerade mal 5 Prozent ab 1 Millionen Euro Geldvermögen würde rund 100 Milliarden pro Jahr in die öffentlichen Kassen spülen.

Dass Sie mit der Wirtschaftspolitik der großen Koalition nicht zufrieden sind, verwundert nicht. Aber wie beurteilen Sie denn die Integrationspolitik der Regierung?

Dagdelen: Die symbolische Integrationspolitik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte hat die gesellschaftliche Teilhabe und Integration der Migranten nicht verbessert. Über 17 Prozent der Migranten haben keinen Schulabschluss, über 40 Prozent keinen Ausbildungsplatz und die Arbeitslosenquote von Migranten ist doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung. Migranten sind mit fast 30 Prozent deutlich stärker als Deutsche von Armut betroffen. Ein Drittel der Beschäftigten haben einen Verdienst unterhalb der Niedriglohngrenze. Jeder zehnte Minijobbeschäftigte hat einen Migrationshintergrund. Armut trotz Arbeit ist insbesondere bei Migranten Normalität.

Was macht die Bundesregierung beim Thema Integration ihrer Meinung nach falsch?

Dagdelen: Die Gesetzesverschärfungen der Bundesregierung bei Ehegattennachzug und Einbürgerung haben zu weiterer Diskriminierung und Ausgrenzung von Migranten geführt. Was wir stattdessen brauchen ist eine soziale Integrationspolitik, deren Ziel die gleiche gesellschaftliche Teilhabe aller ist.

Die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) hat die Anerkennung der doppelten Staatsangehörigkeit gefordert und die Abschaffung des Optionsmodells, wonach sich in Deutschland geborene Kinder von Ausländern im Alter zwischen 18 und 23 Jahren zwischen der deutschen Staatsbürgerschaft und der ihrer Eltern entscheiden müssen. Was halten Sie von dieser Idee?

Dagdelen: Die Regelung «Deutsche auf Abruf» wollte meine Fraktion im Bundestag bereits im Jahr 2006 abschaffen. Unseren Antrag haben aber die SPD und CDU/CSU damals abgelehnt. Die Aussagen von Frau Zypries sind nicht glaubwürdig und geradezu heuchlerisch. Die SPD hatte lange genug Zeit diese Regelung abzuschaffen, mehr als ein Jahrzehnt. Jetzt kurz vor der Bundestagswahl machen sie Wahlkampfgetöse. Die SPD setzt offensichtlich auf die Vergesslichkeit der Menschen mit Migrationshintergrund. Das ist aber ein allzu durchsichtiges Spiel.

Wie sehen Sie die Chancen für eine Rot-Rot-Grüne Koalition?

Wir haben immer deutlich gemacht, dass wir Mindestbedingungen für eine Koalition haben. Dazu gehört neben der Abschaffung von Hartz IV und der Rente mit 67 auch der Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan. Wie die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland fordern wir den Bundeswehreinsatz in Afghanistan zu beenden. Dazu gibt es keine Alternative. Es ist furchtbar, wenn man sich vor Augen führt, dass immer mehr Zivilisten in diesem Krieg sterben. Die jüngste Tötung eines jungen Afghanen durch Bundeswehrsoldaten spricht Bände. Das Problem ist, dass SPD und Grüne diesen Krieg bis zum bitteren Ende fortsetzen wollen. Wir wollen uns nicht an einer Koalition beteiligen, die unschuldige Menschen in Afghanistan ermordet.

Interview: Elbeyi Güvercin