»Das war der Sieg des Friedens über den Krieg«

Am 2. Juni führte die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke) in München mit dem ehemaligen Rotarmisten David Dushman ein Gespräch, das wir im folgenden dokumentieren. Das Gespräch wurde für die Gedenkveranstaltung der Bundestagsfraktion Die Linke zum 80. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion aufgezeichnet. Die Veranstaltung findet am 21. Juni im Deutschen Bundestag statt und wird im Internet live im Youtube-Kanal der Fraktion und auf www.facebook.com/linksfraktion zweisprachig deutsch und russisch übertragen.

Es ist für mich eine große Ehre, heute hier bei Ihnen zu sein. Wir möchten mit Ihnen anlässlich des 80. Jahrestags des Naziüberfalls auf die Sowjetunion ein Gespräch führen. Ich möchte Sie zunächst einmal zu Ihrer Biographie und Ihrer Familie fragen: Wann und wo wurden Sie geboren?

Ich wurde am 1. April 1923 in Minsk geboren. Meine Eltern waren beide Ärzte – ­Mama war Kinderärztin, Papa Militärarzt. Bis zu meinem siebten Lebensjahr haben wir in Minsk gewohnt. Dann wurde mein Vater nach Moskau versetzt, und so ist die ganze Familie dorthin gezogen. Ich bin dann bis 1941 in Moskau zur Schule gegangen und ging gleich nach Beginn des Überfalls in die Armee. Insgesamt war ich vier Jahre im Krieg.

In der Nacht auf den 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht auf breiter Front die Sowjetunion. Sie waren damals 18 Jahre alt. Welche Erinnerung haben Sie an den Tag des Überfalls? Wo waren Sie, was haben Sie gemacht?

Ich war in Moskau bei einem Fechtturnier. An diesem Tag wurden alle Einrichtungen geschlossen und wir nach Hause geschickt. Ich habe noch am selben Tag, dem 22. Juni, unterschrieben, dass ich zum Militär gehen will.

Warum wollten Sie dorthin?

Wir waren Patrioten. Aber zuerst sagte man mir, ich könne noch nicht in den Einsatz, solle in Moskau bleiben und dort auf meine Einberufung warten. Das wollte ich aber nicht. Ich sagte Ihnen: »Nein, nein, ich will sofort an die Front.« Denn ich hatte Angst, dass der Krieg nur ein, zwei Tagen dauert und dann Schluss ist. Wer hätte damals gedacht, dass der Krieg vier Jahre dauert.

Wo haben Sie während des Krieges Ihre Heimat verteidigt?

Ich nahm an der Jelnja-Offensive teil. Dort haben russische Panzer das erste Mal seit dem 22. Juni gegen deutsche gesiegt (Jelnja liegt 50 Kilometer südöstlich von Smolensk, es wurde am 19. Juli 1941 von Wehrmacht und SS besetzt und zu einem Brückenkopf ausgebaut. Vom 30. August bis zum 8. September eroberte die Rote Armee die Stadt zurück – es war ihre erste erfolgreiche Gegenoffensive. Die Deutschen hinterließen eine verwüstete Region. jW) Ich wurde schwerverletzt und mir mussten eineinhalb Meter Darm entfernt werden. Zwei Jahre war ich im Lazarett. Schließlich kam ich wieder in Kursk zum Einsatz (Die Schlacht von Kursk fand vom 5. bis zum 16. Juli 1943 statt. In ihrem Verlauf kam es zu einer Panzerschlacht, die als größte der Geschichte gilt. jW), d. h. nach der Schlacht von Stalingrad. Ich diente in der 65. Panzerarmee und wurde bei Kursk ebenfalls verwundet, aber dieses Mal nur leicht. Von dort ging es weiter nach Polen. In der Nähe von Warschau wurde ich ein letztes Mal verletzt und kam erneut ins Krankenhaus. Diesmal wurde mir eine halbe Lunge amputiert.

Der Raub- und Vernichtungskrieg der Nazis im Osten wurde mit ungeheurer Grausamkeit gegen die Zivilbevölkerung geführt. Mehr als 27 Millionen Menschen starben in Folge von Krieg und Besatzung in der Sowjetunion. Ein Drittel des Landes war am Ende zerstört. Was sind ihre schlimmsten Erinnerungen an Krieg und Terror?

Es war furchtbar. Wissen Sie, ich bin ein Mensch, der nie Angst hat, aber damals hatte ich Angst. Lassen Sie es mich so sagen: Der ganze Krieg war schrecklich, einfach schrecklich – und zwar für alle, Deutsche, Russen und alle anderen. Es ist unsere Aufgabe, alles zu tun, was möglich ist, damit sich so etwas nie wiederholt. Ihre Eltern, Ihre Kinder und Enkelkinder sollen ein normales Leben führen. Gott hat jedem Menschen ein Leben geschenkt. Nur ein Leben! Und nur Gott kann dieses Leben nehmen.

Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht endgültig, der 9. Mai war und ist der »Tag des Sieges«. Was haben Sie damals gemacht? Was bedeutet der 9. Mai für Sie?

Wir haben am 9. Mai viel getrunken. Sehr viel. Das war einfach ein Fest, ein wirklich großes Fest.

Der 8. Mai ist bis heute in vielen Ländern ein Feiertag, zum Beispiel in Großbritannien, in Frankreich und in den Niederlanden. In Russland und einigen anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion wird der 9. Mai als »Tag des Sieges« begangen. In der DDR wurde der 8. Mai als Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus bezeichnet. Die Fraktion Die Linke im Bundestag fordert seit Jahren, den Tag der Befreiung als gesetzlichen Gedenktag einzuführen. Leider ist auch unser jüngster Antrag mit den Stimmen von CDU, CSU, SPD, FDP und AfD abgelehnt worden. Was halten Sie von der Initiative?

Es ist sicher schwierig für die Deutschen, diesen Tag zum Feiertag zu machen. Sie haben den Krieg verloren. Aber diesen Tag müssen alle Menschen aller Generationen und auf der ganzen Welt feiern. Das war kein Sieg Russlands über Deutschland. Sondern ein Sieg des Friedens über den Krieg.

Glauben Sie mir, wir im Panzerbataillon haben immer vorne gekämpft. Wir haben viele Gefangene gemacht. Ich habe denen niemals etwas Schlimmes angetan, sie haben kein schlechtes Wort von mir gehört. Diese Leute waren nicht schuld, allein Hitler. Wenn ich den gefangen hätte … Dem hätte ich es richtig gesagt.

Bei all dem Leid und trotz der 27 Millionen Toten des Vernichtungsfeldzugs in der Sowjetunion haben Sie keinen Hass auf die Deutschen gehabt?

Um Gottes willen, nein. Das deutsche Volk hat der Welt so viele großartige und bekannte Menschen geschenkt. Denken Sie nur an die Komponisten, an Johann Sebastian Bach oder an Richard Wagner. Dazu viele Wissenschaftler mit großen Namen, Sportler, Schauspieler. Nicht das deutsche Volk ist schuld, der Faschismus muss zerstört werden. Die Deutschen sind anständige Leute und hilfsbereit. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Thomas Bach …

… der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees …

Ich weiß genau, wenn ich Thomas Bach anrufe und ihm sage, dass ich etwas brauche, dann kommt er sofort zu mir und macht alles für mich. Walentina, meine Pflegerin, kann Ihnen das bestätigen.

Wann und warum sind Sie nach München gekommen?

Das ist eine lange Geschichte. Ich habe bis zu den Olympischen Spielen 1988 in Seoul mit der sowjetischen Nationalmannschaft im Fechten gearbeitet. Meine beste Schülerin war Walentina Sidorowa. Als sie ihre Karriere beendete, war ich arbeitslos. Ich habe damals angefangen, als Taxifahrer zu arbeiten. Eines Tages bekam ich das Angebot, nach Colorado in die USA zu gehen. Ehrlich gesagt, hat es mir dort nicht gefallen. Amerika ist ein gutes, schönes Land, aber ich wollte dort nicht leben.

Schließlich hat mir der Präsident der Akademie der Fechtkunst Österreich, Albert Martincic, angeboten, nach Österreich zu kommen und dort zu arbeiten. Mir hat es da wirklich gut gefallen. Sechseinhalb Jahre war ich in Graz. Im Sommer bin ich immer zum Urlaub nach Moskau gefahren. Ich musste dort dann immer Geld wechseln. Vor der Bank gab es eine riesige Schlange. Ich bin zu Polizisten gegangen und habe ihnen meinen Ausweis gezeigt und gesagt, dass ich Kriegsveteran bin. Sie haben dann gesagt, ich könne vorgehen und müsse nicht warten. Hinter mir war eine Frau, die Schwester von David Tyschler, einem der bekanntesten Meisterfechter in der Sowjetunion. Sie hat mich erkannt, und wir haben uns ein wenig unterhalten. Sie war auf dem Weg nach Deutschland, sie erzählte mir von der Möglichkeit, als Mann mit jüdischen Wurzeln ebenfalls nach Deutschland zu gehen. Ich habe die dafür notwendigen Unterlagen ausgefüllt und eingereicht. Sechs Monate später, ich war wieder zurück in Österreich, habe ich eine Einladung von der Botschaft bekommen.

Wissen Sie was: Ich war damals in Deutschland schon einigermaßen bekannt. Es gab ja bis 1990 die beiden deutschen Staaten, die DDR und die BRD, aber jetzt gab es nur eine Fechtmannschaft, vorher eine sehr große Konkurrenz. Nun war die Frage, welche Leute besser sind, die aus der DDR oder die aus der BRD. Die DDR wurde von der UdSSR unterstützt, die BRD von den USA. Ich besuchte verschiedene Turniere und habe bei einer Meisterschaft in Göppingen mitgeholfen, habe geholfen, dass die DDR-Mannschaft gewinnt. So kannte ich viele Leute in Deutschland.

Ich kannte z. B. Emil Beck. Wir waren sehr gute Freunde. Er hatte den Olympiastützpunkt in Tauberbischofsheim aufgebaut. Er hat das alles von null an aufgebaut, die beste deutsche Fechtschule. Das war eine wirklich großartige Leistung. Aber zwei Bären können nicht zusammenleben. Ich habe ihm gesagt, »Emil, Tauberbischofsheim, das ist dein Platz« und bin dann nach München gegangen.

Sie waren am 27. Januar 1945 mit ihrem T-34-Panzer an der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz beteiligt. Sie sind der letzte Zeitzeuge der Befreiung. Was haben Sie dort erlebt?

Wir haben nicht gewusst, dass es das Konzentrationslager Auschwitz gibt. Wir waren mit der 1. Weißrussischen Front auf dem Weg nach Berlin, ebenso die 1. Ukrainische Front. Wir waren schon an Auschwitz vorbei, als wir den Befehl bekamen, zum Lager zurückzufahren. Mit meinem Panzer habe ich den Lagerzaun niedergefahren.

Was habe ich gesehen? Schmale, magere Menschen mit riesigen, großen Augen in dieser Kleidung oder Uniform der KZ-Häftlinge. Als wir mit unseren Panzern kamen, liefen sie zuerst vor uns weg. Wir haben ihnen dann alles gegeben, was wir hatten – Kleidung, Konserven. Meine Einheit musste aber weiterfahren, zunächst in Richtung Warschau. Die Ukrainische Front folgte uns und hat den KZ-Häftlingen geholfen.

Waren Sie jemals bei den Gedenk­feiern in Auschwitz?

Nein, niemals. Ich weiß auch nicht, warum nicht.

In den letzten Jahren hat die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland zugenommen. Wie bewerten Sie das? Nehmen Sie das wahr?

Das ist eine sehr schlechte Entwicklung. Wer wirklich daran Schuld hat, weiß ich nicht, das kann ich nicht sagen. Ich bin kein Politiker. Aber das ist einfach Mist. Das ist nicht normal. Das kann nicht sein.

Was wünschen Sie sich von der ­Politik?

Dass alle Freunde sind. Dann müssen Sie keine Angst haben, was mit Ihren Kindern wird.

Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag für Freundschaft mit Russland in den Bundestag eingebracht. Wir wollen einen deutsch-russischen Freundschaftsvertrag, wie ihn die Bundesrepublik und Frankreich in den 1960er Jahren miteinander abgeschlossen haben. Was halten Sie von einer solchen Initiative?

Ich bin völlig dafür, ich bin für diese ­Initiative.

Wir erleben das Wiedererstarken rechter, faschistischer Parteien und wachsenden Rassismus und Antisemitismus. Was können, was müssen wir dagegen tun?

Wir müssen mit allen gesetzlichen Mitteln dagegen vorgehen, da muss das Gesetz angewandt werden. Die Verantwortlichen gehören ins Gefängnis, es darf einfach keinen Rassismus mehr geben und eine Konfrontation, die zu einem Krieg führen kann. Das darf nicht sein, es muss verboten werden. Wir müssen verhindern, dass das wieder wächst, es ist unsere oberste Aufgabe.

Was müssen wir tun gegen den Antisemitismus von heute?

Das ist eine schwierige Frage. Antisemitismus hat eine lange Geschichte durch die Jahrhunderte. Alles hängt von der Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen und ihrer Bildung in der Schule ab. Es gibt so viele verschiedene Menschen – Afrikaner, Europäer, Chinesen, aber sie sind alle Brüder.

Sie kommen aus einer jüdischen ­Familie, haben Auschwitz gesehen und waren später in Buchenwald.

Ich finde, jeder Mensch auf der Welt sollte einmal Buchenwald besuchen und sich das dort alles anschauen. Das muss Teil des Lehrplans an den Schulen sein.

Buchenwald – das ist ein Alptraum. Als ich das erste Mal von dem Konzentrationslager in einer Zeitschrift gelesen und Bilder gesehen hatte, konnte ich zwei Nächte nicht schlafen.

Was müssen wir tun, um die Freundschaft zwischen Russland und Deutschland zu fördern?

Wenn ich das wüsste, könnte ich Politiker werden (Lacht.). Wir müssen es machen, ich weiß aber leider nicht wie.

Wodka trinken …

Warum sollte ich Sie hassen? Sie sind eine hübsche deutsche Frau, ich bin Russe. Warum sollte ich Sie, ihre Familie, Ihre Kinder hassen? Wir sind die gleichen einfachen Menschen, zwischen denen es Freundschaft geben sollte.

David Dushman …… wurde 1923 geboren, er starb am 5. Juni in München. Nach seinem Militärdienst im Zweiten Weltkrieg widmete er sich dem Fechtsport und war fast vier Jahrzehnte seit 1952 Trainer der sowjetischen Frauennationalmannschaft. Seit 1996 lebte er in München und trainierte bis 2017 fast täglich einen Fechtverein. Er trat in Schulen als Zeitzeuge auf, zu seinem 98. Geburtstag wurde er zum Ehrenmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde München ernannt.

Quelle: junge welt


Foto: Olaf Krostitz

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