Das andere Afghanistan
Etwa 400 TeilnehmerInnen aus verschiedenen Städten Deutschlands, darunter viele in Deutschland lebende Afghanen, VertreterInnen der Friedensbewegung, Mitglieder der Partei DIE LINKE und weitere Interessierte fanden sich am28./29. Januar 2011 zusammen, um die Sichtweise von Vertretern der afghanischen Zivilgesellschaft kennenzulernen und über Alternativen zu debattieren. Die afghanischen Gäste trafen sich mit in Deutschland lebenden Afghanen zum Kennenlernen, Vernetzen und zum Gedankenaustausch.
Gregor Gysi eröffnete die Konferenz »Das andere Afghanistan – Eine Konferenz mit afghanischen Friedenskräften« am Freitagabend und bekräftigte die Forderung der Fraktion DIE LINKE nach einem unverzüglichen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Krieg führe zu einer Verrohung der Menschen, zuerst in der Armee, dann in der Gesellschaft. Krieg sei kein Mittel gegen den Terrorismus, sondern nähre diesen. Er stellte den Abzugsplan der Fraktion DIE LINKE in drei Schritten vor: Erstens sollen die Spezialkräfte der Bundeswehr sofort ihre Arbeit einstellen und innerhalb eines Monats abgezogen werden. Angestrebt werden soll ein Waffenstillstandsabkommen. Zweitens soll Deutschland zivile, selbstbestimmte Strukturen in Afghanistan unterstützen, Schulden erlassen und in Projekte der zivilen Konfliktbearbeitung investieren. Drittens solle die UN das ISAF-Mandat beenden und ein neues UN-Mandat beschlossen werden, dass ausschließlich auf den zivilen Wiederaufbau gerichtet sein müsse.
Der Journalist und Buchautor Andreas Zumach moderierte das Eröffnungsplenum unter dem Titel »Perspektiven für eine friedliche Entwicklung in Afghanistan«. Auf dem Podium sprachen (v.r.n.l.) der Friedensforscher Prof. Dr. Werner Ruf, die afghanische Frauenrechtlerin und ehemalige Abgeordnete Malalai Joya, die entwicklungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE Heike Hänsel, der afghanische Journalist Sayed Yaqub und der medienkritische Journalist und Auslandskorrespondent Ulrich Tilgner.
Die ehemalige Abgeordnete und Frauenrechtlerin Malalai Joya kritisierte den NATO-Krieg scharf: »USA und NATO fielen in Afghanistan angeblich für die Rechte der Frauen ein, aber heute ist die Situation der Frauen genauso katastrophal, wie unter der Herrschaft der Taliban. Vergewaltigungen, Entführungen, Morde, Säureattentate und häusliche Gewalt steigen rapide an. (…) Viele Menschen fragen mich, wie sie die Frauen in Afghanistan unterstützen können. Erstens, Krieg wird Frauen niemals helfen. Zweitens wir haben die Chance, dass sich afghanische Frauen selbst befreien und progressive Männer uns helfen werden. (…) Während uns die westlichen Regierungen bombardieren, bin ich sehr froh, dass sich die friedliebenden Menschen dieser Länder mit uns solidarisieren und ihre Stimme gegen die falschen Handlungen ihrer Regierungen erheben. Eure Solidarität gibt uns Mut und Entschlossenheit für den Kampf um Gerechtigkeit und echte Demokratie in unserem Land. Ich glaube, dass die einzige Lösung für Afghanistan darin besteht, dass die Truppen sich zurückziehen, denn ihre Anwesenheit erschwert den Kampf um Gerechtigkeit sehr, weil sie die reaktionären, brutalen und dunklen Kräfte bemächtigen, die ein großes Hindernis für die wahrhaft demokratischen Akteure darstellen. (…) Das Afghanische Volk ist von drei Feinden umstellt: den Taliban, den fundamentalistischen Warlords, und den ausländischen Truppen. Wenn der ausländische Feind das Land verlässt, steht mein Volk nur noch zwei Feinden gegenüber und der Kampf gegen sie würde leichter. Manche sagen die Taliban könnten wieder an die Macht gelangen und ein Bürgerkrieg würde ausbrechen, aber mein Volk wird trotz seiner Wunden, ausgezehrter Kräfte und Kriegsmüdigkeit standhaft bis zum Ende kämpfen, weil es sie so sehr hasst. Die Geschichte bezeugt, dass sich Nationen nur selbst befreien können.«
Am Samstag diskutierten Malalai Joya, der Vorsitzende der afghanischen Einheitspartei Shir Mohammad Basergar und der Rechtsanwalt und Vertreter der Hinterbliebenen der Opfer von Kundus Karim Popal zum Thema Politisches System, Warlords und ISAF Truppen . Moderiert wurde das Panel von der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen.
Basergar beschrieb die Erfolglosigkeit des ISAF-Invation: »Die Erfolglosigkeit der Operationen von ausländischen Kräften, die auf fehlende Koordination der internationalen Koalition gegen den Terrorismus zurückgeht, ruft ebenfalls große Unzufriedenheit hervor. Infolge solcher Aktionen sterben immer mehr Zivilisten: Ihre Dörfer werden dem Boden gleichgemacht und entvölkert. Der 33-jährige Krieg beschädigte die geistig-materiellen Strukturen unseres Landes massiv. Unsere Wirtschaft erfuhr große Schäden. Armut und Arbeitslosigkeit sind weit verbreitet. 70 Prozent unserer Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. (…) Afghanische Frauen leiden am meisten unter Ignoranz und Gewalt. Man schneidet ihnen Ohren, Zunge und Nase ab. (…) Solche Fälle wie Selbstmord, Selbstverbrennung, unfreiwillige Eheschließung, Weigerung der Alimentzahlung, Vergewaltigung, Sucht usw. zeugen alle von der Verletzung der Frauenrechte. Die afghanische Jugend genießt keinen Schutz. Sie müssen ohne Bildung vorzeitig arbeiten, um sich zu ernähren. Sie sind gezwungen zu flüchten oder den kriminellen Organisationen wie terroristischen Banden der Drogenszene beizutreten. Sie nehmen auch an Sabotageakten fundamentalistischer Gruppierungen teil. Als Invaliden und Kriegsversehrte ihr Recht auf Behandlung und Unterkunft einforderten, wurden sie von der Regierung als Schnorrer und Gewalttäter bezeichnet. Viele vom Krieg betroffene Familien haben außer den Kindern und Jugendlichen keinen anderen Ernährer.« Alternativ zur korrupten Karsai-Regierung fordert Basergar: »Die Regierung, die wir vorschlagen, ist eine Regierung, die die Bürgerrechte aller Afghanen ungeachtet ihres Geschlechts, Sprache, Volkszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit gleichermaßen schützt. Der Staat, für den wir kämpfen, ist ein Sozialstaat, in dem die Menschen in einem großen nationalen Projekt für ein friedliches Zusammenleben vereint werden.«
Karim Popal beschrieb die Rede vom zivilen Aufbau in Afghanistan als eine Lüge: »Man verkauft uns für dumm, die Weltgesellschaft wolle Afghanistan aufbauen. Diese Lüge ist durchschaut. (…) Solange wir nicht unser Land selbst aufbauen, kann es auch niemand anderes für uns tun.« Frieden sei niemals durch Gewalt zu erreichen.
Am Abschlusspodium, moderiert von Heike Hänsel, nahmen Karim Popal, Said Mahmoud Pahiz, Malalai Joya, Shir Mohammad Basergar und Hadi Marifat teil. Sie bekräftigten die Notwendigkeit der Solidarität der friedliebenden Menschen und Bewegungen sowie das Ziel, dass die Menschen in Afghanistan sich selbst befreien und eigenständig ein demokratisches friedliches Afghanistan aufbauen können.
Said Mahmoud Pahiz, Vertreter der neu gegründeten Solidaritätspartei mit mehr als 30.000 Mitgliedern in ganz Afghanistan, nahm auf Einladung von Sevim Dagdelenam 1. Februar an einer Veranstaltung in Bochum und am 2. Februar in Aachen teil.
http://www.linksfraktion.de/fotostrecken/das-andere-afghanistan-konferenz-afghanischen-friedenskraeften/