“DIE LINKE muss sich auf ihre Kernthemen konzentrieren, soziale Gerechtigkeit und Frieden”
Interview in der britischen Zeitung Morning Star: Jamshid Ahmadi spricht mit der LINKE-Abgeordneten Sevim Dagdelen über das desaströse Abschneiden der Partei bei der Bundestagswahl im September und welche Lehren daraus zu ziehen sind.
Die Ergebnisse der Bundestagswahl Ende September haben viele Beobachter und politische Kommentatoren überrascht. Waren diese Ergebnisse für die linken Kräfte in Deutschland und insbesondere für DIE LINKE unerwartet?
Dieser Absturz ist für DIE LINKE brutal und bitter, er hat sich gleichwohl auch abgezeichnet. Die Vernachlässigung der sozialen Frage, der Fragen der sozialen Gerechtigkeit und eines starken Sozialstaats durch die alte Parteiführung in den letzten acht Jahren hat unser Vertrauen verspielt bei den Beschäftigten mit niedrigen und normalen Einkommen, bei den Arbeitslosen, bei den Rentnerinnen und Rentnern. Wir müssen hier einen massiven Einbruch bei der uns zugeschriebenen sozialen Kompetenz konstatieren.
Was waren die wichtigsten Faktoren, die den SPD und der FDP bei den Wahlen geholfen und ihren Anteil an der Macht im deutschen politischen System verbessert haben?
Das Wahlergebnis entspricht dem Zeitgeist des „progressiven Neoliberalismus“. Mit den Wahlsiegern SPD, Grüne und FDP hat eine Mehrheit der Bürger Parteien gewählt, die zwar Modernisierung versprechen, in Wahrheit die gesellschaftliche Spaltung in wenige Superreiche und immer mehr Arme vertiefen. DIE LINKE war hier keine erkennbare Gegenkraft. Auch wenn die Ursachen für die Niederlage tiefer liegen, zur Wahrheit gehört: Es war fatal, den Eindruck zu erwecken, man wolle als DIE LINKE bedingungslos mitregieren. Statt unsere roten Haltelinien, keine Zustimmung zu Sozialabbau, keine Zustimmung zu Krieg zu kommunizieren, waren etliche lieber damit beschäftigt, Sondierungsteams für Koalitionsverhandlungen zusammenzustellen. Das war eine Politik im Wolkenkuckucksheim – Grüne wie SPD haben deutlich zu erkennen geben, dass sie mit uns LINKEN nicht regieren wollen. Und doch meinte man, hier einen Lagerwahlkampf führen zu müssen.
Es lässt sich nicht verhehlen, dass DIE LINKE und die linken Kräfte in Deutschland bei dieser Wahl einen deutlichen Rückschlag erlitten haben. Lag das an der attraktiven oder pragmatischen Politik der rechten Mitte oder wurden entscheidende Fehler im Wahlkampf und in der Politik der LINKEN gemacht?
Die „Verhindert Armin Laschet“-Kampagne gegen den CDU-Kanzlerkandidaten ohne Kritik an den Herausforderern Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) hat letztlich dazu geführt, dass viele unserer Wählerinnen und Wähler dann gleich SPD und Grüne gewählt haben oder ins Nichtwählerlager abgewandert sind.
Die tiefergehenden Ursachen aber sind eine in den letzten acht Jahren organisierte Entfremdung von Beschäftigten und Erwerbslosen. Hier ist der Eindruck entstanden, dass DIE LINKE weder ihre Sprache noch ihre Interessen vertritt. Das ist eine ganz fatale Entwicklung. Es rächt sich, dass man meinte, die klassenpolitische Ansprache durch eine identitätspolitische zunehmend ersetzen zu wollen. Dadurch ist bei einem großen Teil unserer Kernklientel der Eindruck entstanden, dass die Partei weder ihre Sprache spricht noch ihre Interessen vertritt. Wir haben uns zu sehr mit uns selbst beschäftigt, wie im Fall der innerparteilichen Attacken gegen unsere beliebteste Politikerin Sahra Wagenknecht. Hier wurden abgehobene Debatten geführt. Wir müssen den Menschen wieder mehr zuhören statt sie belehren zu wollen.
Die Grünen waren bei dieser Wahl erfolgreich. Haben sie eine radikale Politik in Bezug auf die Klimakrise und die zunehmenden internationalen Spannungen angeboten – vor allem, indem sie diese Themen im Kontext der politischen Ökonomie des Kapitalismus und der Rolle Deutschlands im globalen Kapitalismus diskutiert haben? Und welche Position hat DIE LINKE im Wahlkampf zu diesen Themen eingenommen?
Der Klimaschutz der Grünen setzt auf eine Symbolpolitik, die Konzerne ungeschoren lässt, aber die Lasten den Menschen mit geringem Einkommen aufbürden will über verheerende Preiserhöhungen. Von der LINKEN wurde nicht ausreichend deutlich gemacht, dass wir die perfide Politik der Preiserhöhungen der Grünen ablehnen. Bei den Wählerinnen und Wählern kam nur der Eindruck an, DIE LINKE will grüner sein als die Grünen, sie will noch schneller raus aus der Kohle und weg vom Verbrennungsmotor, ohne dass hier plausible Szenarien aufgezeigt wurden, wie dies realisiert werden soll und dass dies nicht zulasten der Beschäftigten, der Bürgerinnen und Bürger geht. Wo die Grünen bei Klimaschutz wirklich stehen, zeigt sich in den Gesprächen mit der FDP über eine Koalitionsregierung mit der SPD. Beide Parteien fordern eine Zerschlagung und Privatisierung der Deutschen Bahn quasi nach britischem Vorbild. Man muss kein Prophet sein, um zu prognostizieren, wohin das führen wird. Weniger Kilmaschutz, höhere Fahrpreise, schlechtere Service, weniger Sicherheit aber höhere Profite für private Konzerne und bessere Anlagemöglichkeiten für Oligarchen.
Wie die meisten anderen großen kapitalistischen Länder war auch Deutschland bei der Bewältigung der Corona-Pandemie im Allgemeinen erfolglos und schlecht ausgerüstet, was schreckliche Folgen für seine Bevölkerung hatte. War das, zusammen mit den anderen Folgen der vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftspolitik in Deutschland, ein wichtiges Wahlkampfthema?
Leider nicht. Die Corona-Krise hat die dramatischen Folgen von Privatisierungen im Gesundheitswesen und anderen Bereichen der Daseinsvorsorge zwar eindrücklich vor Augen geführt. In der Krise wurden sogar noch Intensivbetten abgebaut und die Bedingungen des Pflegepersonals nicht verbessert. Aktuell arbeiten über 300.000 voll ausgebildete Pflegefachkräfte in einer anderen Branche, weil die Löhne zu prekär und die Arbeitsbedingungen in der Pflege selbst zu schlecht sind. Über die Hälfte wäre bereit, wieder in der Pflege zu arbeiten, wenn die Bezahlung besser und die Überlastung weniger wäre. Zugleich wird versucht, von dieser Verantwortung für das desolate Gesundheitssystem durch eine öffentliche Kampagne abzulenken, die diejenigen, die sich bisher noch nicht haben impfen lassen, für das eigene Versagen in der Gesundheitspolitik verantwortlich zu machen versucht. Ein neuer neoliberaler Autoritarismus bricht dich hier Bahn, der das eigene organisierte Versagen im Kapitalismus mit der Hexenjagd auf tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende bekleidet.
Hat DIE LINKE irgendwelche Lehren aus diesen Ergebnissen gezogen und beabsichtigt die Partei, ihre Politik grundlegend zu überarbeiten oder gar zu revidieren?
Die Diskussionen über die Ursachen für und die nötigen Konsequenzen aus dem historisch schlechten Wahlergebnis sind kontrovers. Wie dringend notwendig es ist, dass sich die Linke auf ihre Kernthemen, nämlich soziale Gerechtigkeit und Frieden, besinnt, zeigen die aktuellen Entwicklungen bei den Sondierungsverhandlungen: Es zeichnet sich ab, dass Grüne und FDP als gemeinsamer Block auftreten werden. Gegen dieses öko-neoliberale Bündnis braucht es mehr denn je eine soziale Opposition, die Friedenspartei bleibt und wieder soziale Protest- und Kümmerer-Partei wird. Es wäre zudem verheerend, die friedenspolitischen Positionen von DIE LINKE zu schleifen, wie das manche Stimmen in der Partei fordern. Der Einsatz für Frieden, Diplomatie und Abrüstung gehört zu unserer DNA. Angesichts der zunehmenden Kriegsgefahr durch die aggressive Geopolitik der NATO dürfen wir von unserer klaren Haltung nicht abrücken und müssen weiter werben für eine friedliche Außenpolitik. In der Geschichte kommunistischer, linker Parteien in Europa ist das Abrücken von friedenspolitischen Positionen meist auch mit der Aufgabe sozialer Politik verbunden gewesen. Wenn man einmal anfängt, Aufrüstung und Militär-Einsätzen zuzustimmen, ist es nur eine Frage der Zeit, dass auch die sozialpolitischen Forderungen fallen. Das wäre der Weg in den Abgrund. Das gilt es zu verhindern.
Quelle: Morning Star
Englisches Original zum Download als pdf: Morning Star – Interview MP Sevim Dagdelen