Die Migranten sind der Sündenbock
Innerhalb der politisch linken Organisationen in Deutschland ist wiederum die Linkspartei (Die Linke) diejenige, die angesichts der Diskussionen um die Migranten die klarste Position vertritt. Diese Partei, die politisch weiter links steht als die Sozialdemokraten und die Grünen, macht in Deutschland in den letzten Jahren zunehmend durch einen Zuwachs ihrer politischen Macht auf sich aufmerksam. Die zu den türkischstämmigen Abgeordneten ihrer Partei gehörende Sevim Dagdelen – Sprecherin für Integrations- und Migrationspolitik der Fraktion der Linkspartei im Bundestag und stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe – bringt vor, die Migranten in Deutschland seien stets zum Sündenbock für wirtschaftlich-politische Probleme gemacht worden. Dagdelen zufolge trifft dies selbst für den Zeitraum zu, in denen politisch linksstehende Parteien die Bundesregierung stellten: "Wenn wir uns die Geschichte der Migration der ausländischen Arbeiter in den letzten fünfzig Jahren ansehen, so stellen wir fest, dass ähnliche Diskussionen wie heute immer wieder auf der Tagesordnung gestanden haben. Ob nun zu Zeiten der Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Grünen oder aber zu Zeiten der vorherigen Kohl-Regierungen bzw. nachfolgenden Merkel-Regierungen – dessen sind wir stets Zeuge geworden. In diesen Diskussionen, die meist von den Politikern vom Zaun gebrochen wurden, wurden die Migranten als verantwortlich für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in Deutschland – insbesondere für die hohe Arbeitslosigkeit – dargestellt und zu Sündenböcken gemacht."
‚VORHERRSCHEND SIND DIE INTERESSEN DES DEUTSCHEN KAPITALS ‚
Dagdelen bringt zum Ausdruck, es sei kein Zufall, dass derartige Diskussionen gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise wieder auflebten: „Die Herrschenden bedienen sich dieser Methode insbesondere immer zu den Zeiten, in denen das Potential an gesellschaftlicher Kritik zunimmt. Aus diesem Grund ist es kein Zufall, dass derartige Diskussionen gerade jüngst wieder ihren Höhepunkt erreichen, und zwar genau zu der Zeit, in der Deutschland die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte durchmacht, die Rechnung für diese Krise aber den breitesten Schichten der arbeitenden Massen präsentiert wird."
Nach Meinung von Dagdelen stecken hinter den jüngsten Diskussionen, in denen insbesondere auch die Rolle des Islams in den Vordergrund gerückt wird, im Kern die Bedürfnisse des deutschen Kapitals: "Nach den Anschlägen vom 11. September verschob man die Diskussionsebene von der ethnischen Herkunft auf die Ebene religiöser Überzeugungen. Heute werden insbesondere die muslimischen Migranten in das Zentrum dieser Diskussionen gerückt. In Deutschland erleben wir schon seit ungefähr fünf Jahren einen Diskussionsprozess, in dem auf die die religiösen Überzeugungen der Migranten abgehoben wird und diese Weise die Vorurteile ihnen gegenüber verstärkt werden. Der gemeinsame Nenner all dieser Diskussionen bestand im Kern in der Forderung nach einer Einwanderungspolitik, die die Interessen des deutschen Kapitals in den Vordergrund stellte.
Dass all diese Diskussionen keinen Einfluss auf breiteste Schichten der Bevölkerung ausüben würden, ist natürlich völlig unmöglich. In diesem Zusammenhang muss man berücksichtigen, dass diejenigen Politiker, die ihre rassistisch-diskriminierenden Äußerungen damit begründen, sie brächten quasi als Sprachrohr lediglich zum Ausdruck, was das Volk denke und fühle, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung völlig auf den Kopf stellen; man muss erkennen, dass die Grund dafür, dass ein großer Teil der Bevölkerung gegenüber den Migranten eine ablehnende Haltung und ein rassistisches Denken entwickelt hat, aus eben diesen Diskussionen rührt."
‚SIND DIE DEUTSCHEN ARBEITER INTEGRIERT?‘
Dagdelen betont zum einen, dass die Intentionen bei der Verwendung des Begriffs Integration inhaltlich verschieden seien und hebt ferner hervor, dass auch die Integration von Millionen von deutschen Arbeitern nicht realisiert sei: „Gewisse Leute bezwecken , wenn sie von Integration reden, in Wahrheit eine Zwangassimilation, andere wiederum verstehen unter Integration, dass die Migranten ihre Bürgerpflichten, die man ihnen allerdings unter Vorenthaltung ihrer elementarsten demokratisch-sozialen Rechte auferlegt hat, gefälligst ohne einen einzigen Mucks zu erfüllen hätten.
Falls man unter Integration ein Zusammenleben von Arbeitern unterschiedlicher Sprache, Religion und ethnischer Herkunft versteht, das auch einen gemeinsamen Kampf für die Durchsetzung gemeinsamer Forderungen und Ideale einschließt, würde damit der inhaltlichen Bedeutung des Begriffs Integration Rechnung getragen, und dagegen wäre natürlich überhaupt nichts einzuwenden. Wenn jedoch wie in der gegenwärtig geführten Integrationsdebatte das Problem nicht als soziales Problem gesehen und anstelle von Integrierung- bzw. Vereinigung auf Zerschlagung und Spaltung abgezielt und der Begriff Integration wiederum dafür instrumentalisiert wird, so muss man sich einer solchen Begriffsverwendung natürlich entgegenstellen. So betrachtet ist festzustellen, dass in Deutschland auch bei Millionen von deutschen Arbeitern, die sich in den Klauen der Arbeitslosigkeit winden, auf Sozialhilfe angewiesen sind und deren Kinder aus Mangel an ökonomischen Möglichkeiten dem segregierenden Schul- und Bildungssystem zum Opfer fallen, keine ‚Integration‘ stattgefunden hat".
‚SELBST BEI POLITISCH LINKSSTEHENDEN GIBT ES DIKRIMINIERUNG VON MIGRANTEN‘
Auf unsere letzte Frage, die nach den Gründen dafür fragt, warum sogar bei denjenigen, die sich selbst als politisch links bezeichnen, diskriminierende Ansichten gegenüber Migranten festzustellen sind, gibt Dagdelen folgende Antwort: "Diese Menschen stehen – unabhängig davon, welchen Standpunkt sie generell zu verschiedenen sozio-ökonomischen Problemen einnehmen – unter dem Einfluss der schon wochenlang andauernden, gegen die Migranten gerichteten Propaganda. Das Denken der Menschen wird eben entscheidend durch ihre materiellen Lebensbedingungen bestimmt. Wenn man sich einerseits vor Augen führt, dass Stimmen für linke Parteien vor allem aus den Schichten der Bevölkerung kommen, die am meisten von Armut, Beschränkungen von Sozialleistungen und Arbeitslosigkeit betroffen sind, wird andererseits auch verständlich, warum es gerade diese Schichten sind, die besonders unter dem Einfluss der migrantenfeindlichen Propaganda stehen."