Eine Kurskorrektur ist überfällig
Von Sevim Dagdelen
Bundeskanzlerin Angela Merkel will am Donnerstag mit der Türkei ein Land besuchen, das sich im freien Fall befindet. Jede Woche werden Hunderte neu verhaftet. Ein Klima der Einschüchterung durchzieht alle gesellschaftlichen Kreise. Merkels Partner Erdogan zieht noch einmal alle Register der politischen Repression.
Die Wirtschaft in der Türkei stürzt zudem ab. Zu dieser Beurteilung ist auch die US-Ratingagentur Fitch gekommen, die ihre. Bonitätsnote für Ankara um eine Stufe auf „Ramschniveau“ gesenkt hat. Vor allem aber politisch ist die Türkei, immerhin Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat, mittlerweile auf „Ramschniveau“. Menschenrechte werden mit Füßen getreten, Oppositionelle, vor allem Politiker der prokurdischen HDP, zu Tausenden verfolgt und inhaftiert. Die kritische Presse wird systematisch ausgeschaltet – unter dem geltenden Ausnahmezustand wurden 169 Fernseh- und Radiosender, Webseiten und Zeitungen geschlossen, fast 150 Autoren und Journalisten sitzen im Gefängnis, 2000 haben ihre Arbeit verloren. Nichts und niemand ist sicher vor dem zunehmend autoritärer agierenden Staatschef und seinen Anhängern. Gegenüber Andersdenkenden hat Erdogan die Handlungsmaxime „Null Toleranz“.
Als wäre das nicht alles allein schon schlimm genug, haben die Abgeordneten der islamistischen Regierungspartei AKP und der faschistischen MHP auch noch formal die Entmachtung des Parlaments beschlossen und wollen dem türkischen Präsidenten per Verfassungsänderung absolute Amtsvollmachten zubilligen. Die Gewaltenteilung ist faktisch abgeschafft. Der Staatschef soll künftig das Parlament und die Justiz kontrollieren, was bis hin zur Besetzung von Richterposten und Stellen von Staatsanwälten reicht. Der Ausnahmezustand wird zum Normalzustand. Dekrete treten an die Stelle von Demokratie. Im April soll die Bevölkerung in einem Referendum Erdogans Präsidialsystem bestätigen. Mit einer fast totalen Kontrolle der Medien und des öffentlichen Lebens soll erreicht werden, dass mit einer entsprechenden Manipulation des Referendums aus einer de facto-Diktatur auch eine de jure-Diktatur wird.
Ausgerechnet in dieser Situation reist Merkel nun nach Ankara. Der Besuch kann einmal mehr als politische Rückendeckung für den Despoten gelten. Das Argument, jeder Besuch komme doch zur falschen Zeit, geht ins Leere, denn gerade vor entscheidenden Abstimmungen ist die Bundeskanzlerin zur Stelle. Wie vor den Wahlen im November 2015 greift sie Erdogan unter die Arme. Mit dem EU-Flüchtlingsdeal vom März 2016 ist Erdogan zum Premiumpartner Merkels avanciert.
Merkel geht es aber nicht nur um die Abschottung, sondern um eine enge geopolitische und geostrategische Partnerschaft mit Ankara. Deutsche Soldaten sollen sich auch weiterhin von der Türkei aus am Bombenkrieg in Syrien beteiligen können. Die Türkei soll ein profitabler Anlageplatz für deutsche Unternehmen bleiben. Aus diesen Gründen wird Erdogan für seinen antidemokratischen Kurs geradezu belohnt, auch wenn Demokraten und Kurden in der Türkei zugrunde gehen. Die Bundesregierung unterstützt deshalb die Ausweitung der Zollunion mit der EU, die für Erdogans Türkei ein Plus von bis zu 1,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bedeuten würde.
Der Besuch der Kanzlerin kommt allerdings auch aus innenpolitischen Gründen zur Unzeit. Denn während die Bundesregierung die Rüstungsexporte in die Türkei hochfährt und damit Erdogans Krieg gegen die Kurden mit unterstützt, wütet zugleich das Erdogan-Netzwerk in Deutschland selbst. Gegen Erdogans Moscheevereinigung in Deutschland, die DITIB, ermittelt der Generalbundesanwalt wegen des Verdachts der Spionage, gegen seine gewalttätigen Rockerbanden geht jetzt der Staatsschutz mit massiven Durchsuchungen vor. Während Erdogan aber den sozialen Frieden in Deutschland gefährdet und versucht auch hierzulande Kritiker unter Druck zu setzen, fährt die Kanzlerin nach Ankara als wäre nichts geschehen.
Wer sich die Kritiklosigkeit der Kanzlerin gegenüber den rassistischen Dekreten des US-Präsidenten Donald Trump gegen Muslime in diesen Tagen anschaut, wird nicht umhinkönnen, dafür im Umgang der Kanzlerin mit Erdogan einen Präzedenzfall zu erkennen. Es scheint daher unwahrscheinlich, dass es bei Merkels jetzigem Besuch in Ankara zu einem klaren Bekenntnis zur Verteidigung der Demokratie kommen wird. Allein aber wenn die Bundeskanzlerin endlich klare Worte zur Verhaftung der vierzehn HDP-Abgeordneten
findet und öffentlich die Freilassung des Fraktionsvorsitzendea Selahathin Demirtas fordert, kann sie der berechtigten Kritik der türkischen Opposition, Merkels Besuch unterstütze Erdogan und sei eine Schande, etwas entgegensetzen.
Bundeskanzlerin Merkel muss ihren Gesprächspartnern zudem klar machen, dass die Bundesregierung nicht daran denkt, die türkischen Soldaten, die in Deutschland stationiert waren und nach ihrer Rückbeorderung aus Angst vor Verfolgung Asyl beantragt haben, an Ankara auszuliefern. Die deutschen Sicherheitsbehörden dürfen nicht zu Handlangern des Autokraten im Kampf gegen seine Kritiker degradiert werden.
Eine Kurskorrektur der Kanzlerin ist überfällig. Alles andere kommt der Beihilfe zu den schändlichen Verbrechen Erdogans gleich. Wenn die Kanzlerin jetzt nicht handelt, muss sie sich das Etikett einer politischen Moral auf „Ramschniveau“ gefallen lassen.
Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke im Bundestag und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses.
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