Eiskalt im Stich gelassen

Von Sevim Dagdelen

Die Anweisung der britischen Regierung, den Journalisten Julian Assange an die USA auszuliefern, wo ihm wegen der Enthüllung von Kriegsverbrechen 175 Jahre Gefängnis drohen, ist ein Generalangriff auf die Pressefreiheit. Die politische Verfolgung von Julian Assange offenbart die ganze Heuchelei und Doppelmoral des Westens. Bei Journalistenverbänden und Menschenrechtsorganisationen weltweit ist das Entsetzen groß über die Entscheidung in London, die Bundesregierung in Deutschland dagegen, die sich eine wertebasierte und menschenrechtsorientierte Außenpolitik auf die Fahnen schreibt, wiegelt ab. Was für eine Schande. Was für eine Feigheit. Was für eine unsägliche Doppelmoral, russische Kriegsverbrechen in der Ukraine anzuprangern, sich aber gleichzeitig feige wegzuducken, wenn US-Präsident Joseph Biden mit seinen britischen Helfern unter absurden juristischen Spionagevorwürfen den Aufklärer US-amerikanischer Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan verfolgen lässt.

Fünf Mitglieder der heutigen Bundesregierung haben sich bis kurz vor den Bundestagswahlen im September 2021 für die Freilassung von Julian Assange eingesetzt: neben der heutigen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sind das Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, Gesundheitsminister Karl Lauterbach, Landwirtschaftsminister Cem Özdemir sowie Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Jetzt dagegen: Dröhnendes Schweigen beim Ampelkabinett oder billige Ausflüchte, das Urteil sei »noch nicht unanfechtbar« und »ein weiterer Rechtsweg möglich«. Bullshit. Es ist Gefahr im Verzug.

Die Auslieferung von Julian Assange an die USA steht bevor. Und die Ampel lässt ihn, den Dissidenten des Westens und eben nicht Russlands, eiskalt im Stich, derweil Amnesty International Alarm schlägt, bei einer Auslieferung an die USA drohe dem Journalisten Isolationshaft wie in Großbritannien. Während sich die grüne Außenministerin hinter dem Verweis auf ein angeblich rechtsstaatliches Verfahren versteckt, stellt die Menschenrechtsorganisation klar: »Die diplomatischen Zusicherungen der USA, dass Assange nicht in Isolationshaft kommen wird, sind angesichts der Vorgeschichte nicht glaubwürdig.« Wie soll man auch einen fairen Prozess in einem Land erwarten können, dessen Justiz Spionagevorwürfe konstruiert und dessen Geheimdienst CIA bereits ein Mordkomplott gegen Julian Assange ausgeheckt hat?

Wer wie die Ampelregierung im Fall Julian Assange vom »Spannungsfeld« des staatlichen Geheimschutzes und dem Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit schwurbelt, hat seinen Kompass stramm auf Washington ausgerichtet und verliert jeden Anspruch, in Sachen Menschenrechte, Demokratie und Freiheit in der Welt noch irgendwo ernst genommen zu werden.

Noch ist es nicht zu spät. Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Kabinett können in den kommenden Tagen beim EU-Rat in Brüssel, beim G7-Gipfel in Elmau und dem NATO-Gipfeltreffen in Madrid ein Bekenntnis zur Verteidigung der Pressefreiheit abgeben und den Schutz derjenigen zusichern, die wegen ihrer journalistischen Arbeit von Verfolgung bedroht und von Inhaftierung betroffen sind, darunter Julian Assange. Die Ampelregierung könnte dem Journalisten und Wikileaks-Gründer als konkrete Geste der Solidarität und Verteidigung der Pressefreiheit politisches Asyl in Deutschland anbieten und damit vor Washington aller Welt deutlich machen, dass Journalismus kein Verbrechen ist und dass eingesperrt gehört, wer Kriegsverbrechen begeht und befiehlt. Nicht der, der sie enthüllt.

Sevim Dagdelen (Die Linke) ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages und auf dem Podium der Solidaritätsveranstaltung für Julian Assange am Dienstag abend in der junge Welt-Maigalerie.

Quelle: junge welt

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