"Erdogan will die Scharia mit dem bürgerlichen Gesetzbuch umsetzen"

konkret : Nach den Wahlen in der Türkei haben Sie geschrieben, dass Erdoğan gescheitert sei. Womit?

Sevim Dagdelen: Erdoğan und seine Regierungspartei AKP müssen das Wahlergebnis als Ablehnung ihres Kurses, die Türkei in einen islamistischen Unterdrückungsstaat zu verwandeln, begreifen. Und trotz aller Verleumdungskampagnen vor den Wahlen, der Anschläge gegen die HDP, auf Wahlkampfbüros und Busse; trotz der Verhaftungswelle gegen HDP-Wahlhelfer/innen, von denen etwa tausend wegen unterstellter Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung inhaftiert wurden – hat die HDP den Sprung ins Parlament geschaOt und Erdoğans Präsidialdiktatur gestoppt. Seine Hetze gegen Kurden, Aleviten, Armenier, Schiiten, aber auch gegen Frauen und Homosexuelle …

… und gegen Jüdinnen und Juden …

… ja, und auch gegen Israel, hat der AKP nichts genutzt. Gerade der letzte Punkt ist bemerkenswert, weil man mit Israel sehr eng militärisch kooperiert. Andererseits wird von Vertretern der türkischen Regierung immer wieder verbalradikal gegen Israel gehetzt, und es werden antisemitische Töne angeschlagen. Die AKP sollte einsehen, dass ihr bisheriger Kurs von der Bevölkerung nicht mehr ohne weiteres mitgetragen wird.

Nun ja, Erdoğans Partei hat auch bei diesen Wahlen mit Abstand die meisten Stimmen geholt.

Ja, gerade in konservativen Regionen hat die AKP natürlich eine verlässliche Wählerschaft. Es ist auch nicht so, dass die AKP, obwohl die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, nichts für die Menschen getan hätte. Beispielsweise wurde im ländlichen Bereich die Infrastruktur gefördert und die Gesundheitsversorgung verbessert. Viele Bürgerinnen und Bürger rechnen der Regierung diese Entwicklung hoch an.

Man muss aber auch betonen, dass es in den vergangenen Jahren eine massive Medienkonzentration zugunsten Erdoğans und der AKP gegeben hat. Das verzerrte Bild der Realität in der Türkei beeinflusst die Menschen natürlich stark. In den ländlichen Regionen haben viele von den Gezi-Protesten 2013 in Istanbul lange nichts mitbekommen. Der türkische CNN-Ableger beispielsweise hat zu Beginn der Proteste einen Dokumentarfilm über Pinguine auf den Galápagosinseln gezeigt.

Der repressive Kurs der Regierung in Sachen Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit trägt ferner zur Einschüchterung der Opposition bei. Über 20.000 politische Gefangene sind derzeit in Haft. Ein guter Freund von mir, Fazil Say, ein bekannter türkischer Komponist, wurde wegen eines Tweets, der angeblich den Islam beleidigt hat, zu einer zehnmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.

Die Islamisierung der türkischen Gesellschaft wurde unter Erdoğan vorangetrieben. Können Sie diesen Prozess mit einigen Stichworten beschreiben?

Erdoğan will die Scharia mit dem bürgerlichen Gesetzbuch umsetzen. Alkoholverbot, Beendigung der Schweinefleischproduktion, Kampf gegen den Laizismus. Hinzu kommen sunnitischer Religionsunterricht als Pflichtfach – rund 1.500 staatliche Gymnasien wurden in religiöse Imam-Hatip-Schulen umgewandelt – und Demagogie gegenüber Frauen, die Abtreibungen vorgenommen haben, sowie ein Kaiserschnittverbot. Außerdem hat es in den vergangenen 13 Jahren AKP-Regierung eine enorme Neubaurate, über 17.000, bei Moscheen gegeben. Es gibt mittlerweile rund 85.000 Moscheen in der Türkei, aber nur knapp 53.000 Schulen.

Aber nicht nur innenpolitisch, sondern auch mit Bezug auf die Außenpolitik lässt sich von einer fortschreitenden Islamisierung sprechen. Die türkische Regierung hat islamistische Gotteskrieger in Syrien unterstützt und – wie wir heute wissen – auch Waffen dorthin geliefert.

Das Wahlbündnis HDP hat bei den Wahlen 13 Prozent der Stimmen geholt. Welche Gruppen sammeln sich unter dem Dach dieser Partei?

Da sind Lesbian-Gay-Bi-Trans-Gruppen, die armenische Gemeinde, die alevitische Gemeinde, schiitische Gruppen, Aramäer, Assyrer, Säkulare, Frauenverbände, verschiedene kommunistische Gruppen, aber auch viele kurdische Organisationen, die die größte Gruppe stellen, beteiligt. Das Wahlprogramm ist entsprechend allgemein gehalten und versucht, die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen.

Unter den in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken hat die AKP prozentual mehr Stimmen geholt als die Partei in der Türkei erhielt. Wie erklären Sie sich das?

Es ist häufig so, dass Migrantinnen und Migranten eher konservativ wählen, was oft mit ihrer Migrationsgeschichte zu tun hat. In diesem Fall muss man sich die Sache jedoch genauer ansehen: Von 1,4 Millionen Wahlberechtigten haben 478.000 abgestimmt. Davon haben 53 Prozent die AKP gewählt, aber zweitstärkste Kraft ist hier die HDP geworden.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass die meisten, die gewählt haben, auch in irgendeiner Form organisiert sind. Das heißt, sie haben einen Bezug zu einer politischen oder religiösen Vereinigung. So haben Moscheevereinigungen in Deutschland Busse organisiert, die die Menschen zu den Wahlurnen gebracht haben. Es gab hierzulande insgesamt nur 13 Wahllokale, und dadurch waren die Anfahrtswege zum Teil sehr lang. Außerdem ist die AKP-Basis in Deutschland in der Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) organisiert. Die Ditib-Imame, die aus der Türkei hierher beordert werden, waren vielerorts auch die Urnenverantwortlichen und haben die Wahlhelferinnen und Wahlhelfer hier in Deutschland bestimmt.

Die Ditib ist natürlich keine neutrale und unabhängige Vereinigung. Es ist schon ein Skandal, dass aus der Türkei geschickte Imame hier die Wahlen organisieren und auch an zwei Orten dabei ertappt worden sein sollen, wie sie die Wahl zu manipulieren versuchten.

Die Bundesregierung muss sich ohnehin fragen, wohin ihre Kumpanei mit der Erdoğan-Regierung führen soll. Man hat zu allem geschwiegen, Schützenhilfe geleistet und damit den Islamismus unterstützt.