Erdogans Schauprozess

Türkischer Präsident lässt anklagen: In Istanbul droht zwei Journalisten wegen ihrer Enthüllungen lebenslängliche Haft

Von Sevim Dagdelen, Istanbul

Merkels Mann am Bosporus zieht durch: Auf Betreiben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan müssen sich die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül seit Freitag in Istanbul vor Gericht verantworten. Dem Chefredakteur und dem Hauptstadtbüroleiter der großen Tageszeitung Cumhuriyet wird der Prozess gemacht, weil sie Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Terrorgruppen in Syrien enthüllt haben. Sie sind wegen Spionage, Verbreitung von Staatsgeheimnissen und Unterstützung einer terroristischen Organisation angeklagt. Geht es nach Erdogan, sollen die beiden für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis. Mit der Zulassung Erdogans und des Geheimdienstes MIT als Nebenkläger wurde ein politischer Schauprozess eröffnet. Kurz nach dessen Beginn wurde der Ausschluss der Öffentlichkeit verkündet.

Offensichtlich haben die Journalisten einen Nerv getroffen. Immer wieder war über Waffenhilfe der islamischen AKP-Regierung in Ankara an die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) und andere Regime-Change-Truppen in Syrien berichtet worden. Ende Mai 2015 legte Cumhuriyet ein Video vor, das auf eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an der illegalen Waffenhilfe schließen lässt. Anfang 2014 waren nahe der südtürkischen Stadt Adana sieben Lastwagen angehalten und durchsucht worden. Zutage gefördert wurden Granaten und anderes Kriegsgerät. Der Geheimdienst MIT erklärte, Auftraggeber des Transports zu sein. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu dekretierte, »was in dem Lastwagen war, geht niemanden etwas an«, Erdogan tobte: »Die Operation gegen den Geheimdienst war ein Spionageakt. Die Person, die diese Exklusivnachricht veröffentlicht hat, wird dafür einen hohen Preis bezahlen. So einfach lasse ich sie nicht davonkommen.«

Ende November 2015 wurden Dündar und Gül verhaftet, Ende Februar aber auf Anordnung des türkischen Verfassungsgerichts freigelassen. Erdogan verkündete, das Urteil nicht anzuerkennen. Mit der Entscheidung hätten die Richter »gegen Land und Volk« geurteilt.

Das Verfahren ist eine Farce, wie auch Christophe Deloire, Geschäftsführer von »Reporter ohne Grenzen« in Frankreich, der zum Prozessauftakt nach Istanbul gekommen war, erklärte: »Ich kann nicht erkennen, dass Can Dündar und Erdem Gül eine Karriere als Terroristen mit der Berichterstattung über die Wahrheit begonnen haben sollen.«

Dündar selbst wertet den Prozess als »Wendepunkt«. Auf einer Pressekonferenz der türkischen Journalistenvereinigung TGC erklärte er am Donnerstag: »Staat und Öffentlichkeit werden entscheiden, ob es von nun an noch freien Journalismus in der Türkei geben wird oder nicht.« Der TGC-Vorsitzende Turgay Olcayto konstatierte, es gebe keine echte Solidarität unter den Berufskollegen. »Nur rund zehn Prozent haben den Mut zur Wahrheit oder sind nicht gekauft oder korrumpiert oder auf seiten der Regierung. Entweder wegen vorauseilenden Gehorsams oder Zwangsverwaltung oder Drohungen, dass ihre Medien geschlossen werden.« Dündar und Gül seien zu einem »Symbol des Kampfes für Presse- und Meinungsfreiheit für uns alle« geworden.

Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke im Bundestag und war zum Prozessauftakt nach Istanbul gereist. Auf ihre Initiative hin wandten sich vergangene Woche 135 Abgeordnete aus allen Fraktionen mit einem Protestbrief an Erdogan und mahnten die Einhaltung der Pressefreiheit in der Türkei an.