Ernüchtert – eine 180-Grad-Wende in der Türkei-Politik ist überfällig
Für Erdogan ist ein Sieg im zweiten Wahlgang am 28. Mai in greifbarer Nähe. Wie konnte es aber zu so einer Fehleinschätzung kommen? Ein Gastbeitrag von Sevim Dagdelen
Im Vorfeld der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zeigten sich viele Politiker im Westen wie im Rausch. Ohne genau hinzuschauen, wurden bereitwillig unsubstantiierte Umfragen aus der Türkei kolportiert, die den Herausforderer Kemal Kilicdaroglu mit bis zu zehn Prozent vor dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan sahen. Deutsche Regierungspolitiker waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie vom Brandenburger Tor aus zur Abwahl Erdogans aufriefen, um den Sieg in der Türkei auch als eigenen Erfolg mit verbuchen zu können. Wohl kaum in der jüngeren deutschen Geschichte wurde der eigene Wunsch so sehr für die Wirklichkeit gehalten. Der Aufschlag auf dem Boden der Realität war entsprechend hart. Noch am Wahlabend zeigte man sich „ernüchtert“. Bei den Parlamentswahlen hatten die Regierungsparteien AKP und MHP eine komfortable Mehrheit der Sitze erhalten. Selbst die Yeniden Refah Partisi, eine Frontpartei des politischen Islam, hat es mit 1,5 Millionen Stimmen zu fünf Mandaten in der türkischen Nationalversammlung gebracht. Sicher, Erdogan ist in einen zweiten Wahlgang gezwungen, jedoch mit über zwei Millionen Stimmen Vorsprung und einer hohen Wahrscheinlichkeit, auch noch das Gros der Wähler des Drittplatzierten, eines Ultranationalisten, für sich mobilisieren zu können. Ein Sieg im zweiten Wahlgang am 28. Mai ist für Erdogan in greifbarer Nähe.
Wie konnte es zu einer derart eklatanten Fehleinschätzung kommen? Alles deutet darauf hin, dass man Opfer seiner eigenen Glaubenssätze wurde und sich einer Analyse der Chancen der Kandidaten in der Türkei verstellte. Drei Beispiele sind hierbei besonders prägend.
Berlins Wahlaufrufe für die Opposition haben Erdogan verstärkt
Erstens: Im Wahlkampf war es Erdogan gelungen, Kilicdaroglu von der sozialdemokratischen CHP als Mann des Westens, ja gar als lakaienhaften Gefolgsmann von US-Präsident Joe Biden zu porträtieren. In Berlin wurde gar nicht verstanden, dass dieser Vorwurf wie auch die direkten Wahlaufrufe für Kilicdaroglu, beispielsweise von den beiden Grünen-Vorsitzenden, vor dem Hintergrund der Geschichte der Türkischen Republik als direkte Wahlhilfe für Erdogan fungierten. Die Gründung der Türkei aus dem Unabhängigkeitskampf heraus, der sich gegen die Besatzung von Teilen des Osmanischen Reiches durch europäische Kolonialmächte richtete, ist in der kollektiven Erinnerung sehr präsent. Dazu kommt, dass die asiatisch-russische Neuorientierung der Türkei schlicht verschlafen wurde. Russland hat Deutschland als größten Handelspartner der Türkei abgelöst. Die Geschäfte mit China und Indien wachsen rasant.
Zweitens: Aufgrund der miserablen wirtschaftlichen Situation eines Großteils der Bevölkerung, die Erdogan zu verantworten hat, glaubte man, dass der Unmut darüber geradezu naturwüchsig zu einem Wahlsieg des Herausforderers führen musste. Dabei wurde allerdings völlig außer Acht gelassen, dass die sehr heterogene Oppositionsallianz, der sogenannte Sechser-Tisch, zwar ein gemeinsames sozialpolitisches Programm hatte und auch der Kandidat Kilicdaroglu in seinem Wahlkampf die hohen Lebensmittelpreise thematisierte, ansonsten aber keinen gemeinsamen Wahlkampf führen konnte, der die soziale Frage in den Mittelpunkt gestellt hätte. Nur so aber hätte es gelingen können, jenseits der eigenen Hochburgen an der Mittelmeerküste und in den Metropolen Ankara und Istanbul entscheidende Erfolge im anatolischen Kernland zu erzielen. Erschwerend kam hinzu, dass der als Finanz- oder Wirtschaftsminister eines künftigen Kilicdaroglu-Kabinetts gehandelte Bilge Yilmaz von der zweitstärksten Oppositionspartei Iyi Parti, einer neoliberalen rechtsgerichteten Kraft, im Vorfeld der Wahlen in Aussicht stellte, alle Sozialleistungen auf den Prüfstand stellen zu wollen. Man muss wissen, dass etwa 30 Millionen Menschen in der Türkei staatliche Leistungen erhalten. Derlei Aussagen wurden offenbar als unmittelbare Bedrohung der eigenen Existenz empfunden und dürften Erdogan entsprechend Stimmen gebracht haben.
Der Rechtsruck betrifft nicht nur das Regierungslager, sondern auch die Opposition
Drittens: Massiv unterschätzt wurde das grundsätzliche Dilemma der Opposition. Zum einen war sie in den staatlichen Medien praktisch nicht präsent. Der Regierungssender TRT widmete von April bis Anfang Mai Erdogan 48 Stunden, Kilicdaroglu 32 Minuten. Ähnlich gravierend ist allerdings, dass der Aufbau eines demokratischen Gegenpols zu Erdogan auch daran krankte, dass Kilicdaroglu sich gezwungen sah, rechte Kräfte wie die Iyi Parti und islamistische wie die Saadet-Partei in seine Koalition aufzunehmen, die letztere sitzt jetzt sogar mit sieben Abgeordneten über die Liste der CHP mit im Parlament.
Wenn im Ergebnis der Wahlen nun von einem Rechtsruck in der Türkei zu sprechen ist, gilt das sowohl für das Regierungslager wie das der Opposition. Hier wie da bestimmen faschistische und islamistische Parteien zunehmend die Geschicke der Politik.
In Deutschland wiederum konnte Erdogan auch diesmal fast zwei Drittel aller Stimmen verbuchen. Die Aufregung darüber wirkt umso künstlicher als das Erdogan-Netzwerk, das auch zwischen den Wahlen über die von der staatlichen türkischen Religionsbehörde kontrollierten Moscheevereine, die auch noch jahrelang öffentlich gefördert wurden, faschistische Verbände und die Vereine der islamistischen Moslembruderschaft eine engmaschige Organisation zur Mobilisierung bildet. Wer diese Tendenz beenden will, der muss das Erdogan-Netzwerk in Deutschland zerschlagen. Trotz aller wohlfeilen Worte macht jedoch auch die aktuelle Bundesregierung keinerlei Anstalten, den Beschluss des Bundestages aus dem Jahr 2020, die faschistischen Grauen Wölfe, die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland, zu verbieten. Zu wichtig scheint der Nato-Partner Erdogan, obwohl er auch in der Türkei Andersdenkende verfolgt und Oppositionsführer wie Selahattin Demirtas von der HDP weiter in Haft hält.
Eine 180-Grad-Wende in der deutschen Türkei-Politik ist mehr als überfällig. Dies bedeutet, den Beschluss des Bundestages nach einem Graue-Wölfe-Verbot nicht weiter aufschieben, einen Waffenstopp für die Türkei zu verhängen und endlich die Invasionen Erdogans in Syrien und im Irak als Völkerrechtsbruch zu verurteilen.
Sevim Dagdelen ist Obfrau der Fraktion Die Linke im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages.
Quelle: Berliner Zeitung