»Es ist brutal und bitter, zeichnete sich aber ab«
Interview: Kristian Stemmler
Nur dank dreier Direktmandate gehört Die Linke dem neu gewählten Bundestag weiter als Fraktion an. Wie überraschend kam für Sie diese herbe Wahlniederlage mit nur 4,9 Prozent der Stimmen, nachdem die Partei 2017 noch 9,2 Prozent erhalten hatte?
2009 waren es sogar 11,9 Prozent. Der Absturz der Linken auf nun 4,9 Prozent ist brutal und bitter, er zeichnete sich allerdings ab. Die Vernachlässigung der sozialen Frage, der Fragen der sozialen Gerechtigkeit und eines starken Sozialstaats durch die alte Parteiführung in den letzten acht Jahren hat Vertrauen verspielt: bei den Beschäftigten mit niedrigen und normalen Einkommen, bei den Arbeitslosen, bei den Rentnerinnen und Rentnern. Auch beim Klimaschutz wurde nicht ausreichend deutlich, dass wir die perfide Politik der Preiserhöhungen der Grünen ablehnen. Zugleich war man als Protest gegen die autoritären Zumutungen der Coronapolitik der Bundesregierung nicht vernehmbar. Dazu kommen schwere handwerkliche Fehler im Wahlkampf. Bis zuletzt hatte man im Karl-Liebknecht-Haus die Gefahr, unter die Fünf-Prozent-Hürde zu geraten, vollkommen unterschätzt. Nicht einmal beim Kampf um die aussichtsreichen Direktmandate gab es ausreichend Unterstützung.
Am Wahlabend war sofort von vielen Seiten zu hören, nun müsse das Ergebnis gründlich analysiert werden. Welche Ursachen sehen Sie, an denen das Debakel festgemacht werden kann?
Auch wenn die Ursachen für die Niederlage tiefer liegen: Zur Wahrheit gehört, dass es fatal war, den Eindruck zu erwecken, man wolle bedingungslos mitregieren. Statt unsere roten Haltelinien wie keine Zustimmung zu Sozialabbau und Krieg zu kommunizieren, war man damit beschäftigt, Sondierungsteams für Koalitionsverhandlungen zusammenzustellen. Eine »Verhindert Laschet«-Kampagne ohne Kritik an Scholz und Baerbock hat letztlich dazu geführt, dass viele unserer Wählerinnen und Wähler dann gleich SPD und Grüne gewählt haben oder ins Nichtwählerlager abgewandert sind.
Die tiefergehende Ursache aber ist eine in den letzten acht Jahren organisierte Entfremdung von Beschäftigten und Erwerbslosen. Hier ist der Eindruck entstanden, dass die Partei weder ihre Sprache spricht noch ihre Interessen vertritt. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung. Es rächt sich, dass man meinte, die klassenpolitische durch eine identitätspolitische Ansprache ersetzen zu können.
Haben die Signale, dass friedenspolitische Grundsätze zur Disposition gestellt werden könnten, bei der Wahl geschadet?
Es wäre verheerend, die friedenspolitischen Positionen von Die Linke zu schleifen. Wer das, was bei der Abstimmung über das Wahlprogramm noch gescheitert ist – siehe den Riexinger-Kipping-Entwurf mit seinen Relativierungen bei Positionen zu NATO, Auslandseinsätzen und Rüstungsexporten –, jetzt nachholen will, setzt die Existenz der Partei aufs Spiel. Das wäre dann der Weg in den Abgrund.
Meinen Sie damit die Aussage der ehemaligen Parteivorsitzenden Katja Kipping, die im Taz-Interview die Wahlniederlage auf das Abstimmungsverhalten der Fraktion bei der sogenannten Evakuierungsmission der Bundeswehr in Afghanistan zurückführt?
Wäre es nicht so traurig, könnte man darüber lachen. Ich will jetzt keine Namen nennen. Aber klar ist, dass hier von der eigenen Verantwortung für das Desaster in hervorgehobenen Positionen der Partei und Fraktion abgelenkt werden soll. Es ist erschreckend, dass eine konsequente Friedenspolitik, mit der Die Linke in den Wahlkämpfen 2009 und 2013 und 2017 so erfolgreich war, jetzt offenbar als Belastung empfunden wird. Wer weiter darauf setzt, eigene zentrale Forderungen aufzuweichen, kann nicht glaubwürdig dafür werben, dass die Wähler ein Kreuz bei der Linken und nicht bei einer anderen Partei machen sollen.
Es wird damit gerechnet, dass die Lasten der Coronakrise – egal, ob eine »Jamaika«- oder eine »Ampel«-Koalition zustande kommt – erneut auf die Menschen mit geringem Einkommen abgewälzt werden. Sehen Sie das auch so?
Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass Grüne und FDP als gemeinsamer Block auftreten werden. Gegen den sogenannten progressiven Neoliberalismus braucht es mehr denn je eine soziale Opposition, die Friedenspartei bleibt und wieder soziale Protest- und Kümmererpartei wird.
Sevim Dagdelen ist Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke
Quelle: junge welt