„EU zwingt Serbien in neue Konflikte“
DW: Teilen Sie den Eindruck, dass die EU-Erweiterung angesichts der vielen Krisen der EU – Eurokrise, Brexit, Flüchtlingskrise, Aufmarsch der Rechten, Zerwürfnis mit USA – immer wieder nach hinten geschoben wird? Was halten Sie davon?
Sevim Dagdelen: Die EU ist in einem Zustand, dass wenn sie sich selbst beitreten wollte, große Probleme haben würde, die Kriterien dafür zu erfüllen. Gerade in Punkto Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gibt es große Defizite auf EU-Ebene. Dazu kommt, dass viele Menschen die EU als Sozialabbaumaschine erleben und das europäische Wohlfahrtsversprechen, das einst mit einer stärkeren Integration verbunden war, für Millionen Menschen nicht mehr aufgeht. Vor diesem Hintergrund gibt es eine wachsende Skepsis im Hinblick auf die EU-Erweiterung. Genährt wird dies noch dadurch, dass die EU bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ihre eigenen Kriterien ständig verletzt. So hat sie in den letzten Jahren Rückschritte bei den Menschenrechten mit einer Intensivierung der Beitrittsverhandlungen beantwortet. Da schütteln die Leute nur noch den Kopf. Wer so handelt gefährdet die Akzeptanz von EU-Erweiterungen generell.
DW: Ich erinnere mich an den Beitritt Bulgariens und Rumäniens, sowie Kroatiens… da wurde in Deutschland (Bild&co) immer den Eindruckt erweckt – „da kommen neue arme Länder hinzu, um uns Geld zu nehmen“. Ist es heute überhaupt zumutbar, dass regierende Politiker in EU-Länder das Thema Erweiterung wieder eröffnen?
Sevim Dagdelen: Ich bin da skeptisch. Zum einen ist eine soziale Wende in der EU nicht in Sicht, zum anderen aber orientiert man bei der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik weiterhin auf eine Frontstellung gegen Russland und schafft so mehr Konflikte in Europa anstatt Perspektiven für friedliche Lösungen zu eröffnen. Wenn es auf dem Balkan allein darum geht, dass Länder gezwungen werden sollen, sich in die EU-Sanktionsfront gegen Russland einzureihen, dann stellt man diese Länder nur vor neue Zerreißproben. Mit einer sozialen und demokratischen Perspektive hat das jedenfalls nichts zu tun.
Zudem gilt, dass eine Erweiterungspolitik, die vor allem die Interessen der Großkonzerne aus Deutschland und Frankreich befördert, keine Zukunft hat.
DW: Wir sehen, dass es, wenn es um Serbien geht, in Brüssel immer wieder politische Bedingungen gibt – z.B. wenn man über Eröffnung des Kapitels 27 (Umwelt) redet, fragt man gleich, wie weit die Gespräche mit Kosovo sind. Nutzt die EU den Erweiterungsprozess, nur um politische Ziele auf dem Balkan zu verfolgen?
Sevim Dagdelen: Man will Serbien zwingen, den Kosovo abzutreten. Der Hebel dazu sind die EU-Beitrittsverhandlungen. Auch hier verletzt man seine eigenen Kriterien. Denn auch vor dem Hintergrund, dass es weiterhin Staaten der EU gibt, die die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht anerkennen, ist eine solche Vorgehensweise der EU-Institutionen völlig haltlos. Ich finde es in diesem Zusammenhang äußerst bedenklich, dass die EU die Großalbanienpläne nicht unmissverständlich verurteilt. Zugleich hat man jahrelang weggeschaut, dass im Kosovo der islamistische Einfluss durch die Projekte saudischer Förderer massiv gestiegen ist. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre hier jedes Mittel recht, um den russischen Einfluss auf dem Balkan zurückzudrängen und gerade Serbien in neue Konflikte zu stürzen und russischen Wirtschaftsprojekten möglichst viele Steine in den Weg zu legen, wie man das im Falle der Gas-Pipeline „South Stream“ verfolgen kann.
Um es deutlich zu sagen: die EU versucht Serbien zum einen zur Abtretung des Kosovo zu zwingen und zum anderen dazu, sich in den Kalten Krieg der EU gegen Russland einzureihen. Ob es dann wirklich zu einem EU-Beitritt Serbiens kommen sollte, ist trotzdem völlig ungewiss.
DW: Was halten Sie von der Idee der EU in mehreren Geschwindigkeiten? In Serbien denken viele, das sei der einzige Weg, überhaupt beizutreten – zugegeben, in eine EUb oder EUc, aber immerhin…
Sevim Dagdelen: Wir erleben bereits eine EU der mehreren Geschwindigkeiten. Dieser Trend wird sich noch verstärken und er wird paradoxerweise gerade den Zusammenhalt der EU noch weiter gefährden. Dieser Trend bedeutet aber trotzdem für Serbien keine erleichterte Beitrittsperspektive. Unter den gegebenen Bedingungen ist die Gefahr groß, dass es zu weiteren sozialen Verwerfungen bei einem EU-Beitritt kommen würde. Eine EU-Euphorie scheint mir auch angesichts dessen völlig unangebracht. Am Beispiel Griechenlands kann man sehen, wie EU-Institutionen, wie die EU-Kommission ihren brutalen Beitrag dazu leisten können, ein Land völlig zu ruinieren und eine ganze Bevölkerung in Elend und Armut zu stürzen. Ohne einen sozialen und demokratischen Neustart wird deshalb die EU-Skepsis weiter wachsen.
Autor: Nemanja Rujević
Quelle: Deutsche Welle (serbisch), B92 (englisch)