Faktenprüfer auf Abwegen

von Sevim Dagdelen

Ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine setzt der Westen weiter auf Krieg, anstatt über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Während Bundeskanzler Scholz „die Zeit für Verhandlungen noch nicht gekommen“ sieht, so als wäre der Tod von mehreren Hundert Menschen pro Tag nicht Grund genug, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, schließt Außenministerin Baerbock diese mit ihrer Rede von einem „gerechten Frieden“ und unrealistischen Vorbedingungen de facto sogar kategorisch aus. Die vermeintliche Notwendigkeit, den Krieg zu jedem Preis und auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, wird damit begründet, dass Russland gar nicht verhandeln wolle und auf einen kompromisslosen „Diktatfrieden“ setze.

Dieses Narrativ zur Legitimierung der westlichen Strategie im Ukraine-Krieg, die – wie zuletzt auch Verteidigungsminister Pistorius erklärte – auf einen militärischen Sieg gegen die Atommacht Russland abzielt, ist durch den Bericht des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett über die Waffenstillstandsverhandlungen beider Konfliktparteien im vergangenen Frühjahr schwer ins Wanken geraten. In einem mehrstündigen Videointerview legt Bennett detailliert dar, wie sowohl Russland als auch die Ukraine wenige Wochen nach Kriegsbeginn unter seiner Vermittlung zu erheblichen Zugeständnissen bereit gewesen seien. Obwohl ein Waffenstillstand damals potenziell erreichbar gewesen wäre, habe der Westen dies blockiert.

Doch der entlarvende Bericht Bennetts wurde in den öffentlich-rechtlichen Medien und in den Leitmedien wahlweise ganz ignoriert oder heruntergespielt. Ein Aufschrei blieb aus. Symptomatisch hierfür ist ein am 22. Februar 2023 erschienener „Faktencheck“ des ZDF. Dieser beschäftigt sich mit einer Aussage von Sahra Wagenknecht in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ am Vorabend. Dort stellte diese mit Blick auf das Bennett-Interview fest: „Er sagt, er war kurz davor, einen Waffenstillstand zu erreichen. Blockiert wurde es von den USA und von Großbritannien.“ Diese Aussage wird seitens der „Faktenchecker“ als falsch dargestellt. Die Begründung mutet geradezu absurd abenteuerlich an: Wagenknecht habe unterschlagen, dass Bennett die Chancen für eine Waffenstillstandsvereinbarung rückblickend „nur“ auf 50 Prozent schätzt.

Fakt ist: Bennett selbst spricht in dem Interview von einer „guten Chance auf einen Waffenstillstand“. Der willentliche Verzicht auf eine Fifty-fifty-Chance, dem Frieden näherzukommen sowie Tod, Leid und Zerstörung zu beenden, ist in jedem Fall ein Offenbarungseid.

Die Autoren des ZDF-Beitrags haben offenbar keinerlei Interesse, sich mit der bemerkenswerten Enthüllung Bennetts über die Rolle des Westens für das Scheitern eines möglichen Waffenstillstands in der Ukraine auseinanderzusetzen (Bennett: „Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.“). Keine Rolle spielen beim „Faktencheck“ die Ausführungen Bennetts über den damaligen Verhandlungsdurchbruch und die „enormen Zugeständnisse“, zu denen sowohl Russland als auch die Ukraine bereit gewesen seien. In Übereinstimmung mit Beiträgen der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs und der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) berichtet Bennett davon, dass sich die Ukraine zu einem Verzicht auf einen Nato-Beitritt bereiterklärt und Russland von dem Ziel einer Demilitarisierung der Ukraine abgesehen habe.

Der Umgang von Teilen der Medien mit dem Fall Bennett illustriert, wie sich diese einem Verlautbarungsjournalismus verschrieben haben, der jegliche Opposition gegen eine auf Krieg und Eskalation setzende Regierungspolitik zu zersetzen versucht. Die geradezu besessenen Bemühungen, die Friedenskundgebung mit 50.000 Teilnehmern am Brandenburger Tor vergangenen Samstag kleinzureden und in die rechte Ecke zu rücken, sind ebenfalls Ausdruck dieser gefährlichen Entwicklung, die eine Verhinderung demokratischer Debatten befördert.

Mit den Faktencheckern und -findern scheint sich zudem das Instrument einer regierungsamtlichen Wahrheitsproduktion zu verbinden, mit dem Anspruch festzuschreiben, was richtig ist und was nicht richtig sein darf. Hier wächst die Gefahr, mit dem Etikett, Falschinformationen bekämpfen zu wollen, unter Verletzung des journalistischen Ethos selbst Teil eines Informationskrieges zu werden.

Quelle: Berliner Zeitung

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