"Frühschoppen" bei Sevim
"Frühschoppen" bei Sevim
Bochumer Linke diskutieren über den "Kampf um Nokia"
"Früher nannte man das Frühschoppen", meinte ein Besucher vor Beginn der Veranstaltung. Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke hatte zu einer "Politischen Matinee" in ihr Bochumer Wahlkreisbüro geladen. Thema: "Der Kampf um Nokia: Wie geht es weiter?" Ihre Gäste: Wolfgang Echterhoff, Betriebsrat und Vertrauensmann bei Nokia und Michael Gerber, stellvertretender DKP-Bezirksvorsitzender und Ex-Betriebsrat bei Siemens/BenQ. Ein Bierchen gab es nicht, auch kein "Presseclub"-Gesülze, aber neben Kaffee und Schnittchen vor allem jede Menge Solidarität mit den Nokianern und stärkende Argumente über den Tag hinaus.
Wie ist die Stimmung in der Belegschaft? Wie kann sie am besten unterstützt werden? Hilft eine Boykott-Bewegung? Wie weh tut Nokia ein Imageverlust wirklich? Welche Lehren können die Nokianer aus anderen Kämpfen z. B. bei Siemens/BenQ ziehen? Wie kann man europaweit das gegenseitige Niederkonkurrieren von Standorten verhindern? Wie kann man in Zeiten der Globalisierung vor Ort erfolgreich kämpfen? Sind Beteuerungen von "verlässlichen Mitarbeitern" und Fingerzeige auf "Korruption und Unsicherheit in Rumänien" hilfreich für den Kampf? Ist der Standort durch Modernisierung des Maschinenparks, durch Investitionen und Verdoppelung der Produktion zu retten? Wie können auch die Leiharbeiter in den Kampf einbezogen werden? Was nützt der teuerste Sozialplan, wenn die Arbeitsplätze futsch sind? Brennende Fragen, die im Zentrum der "Politischen Matinee" standen. Allen war klar: sie sind nicht am grünen Tisch zu beantworten, sondern nur im gemeinsamen Widerstand in den Betrieben, auf der Straße, im Parlament. Sevim Dagdelen: "Deshalb ist der Widerstand der Nokianer gegen die Konzernpläne nicht nur für sie selbst, für ihre Arbeitsplätze, für Bochum, für die Region, sondern für uns alle von so großer Bedeutung."
Wolfgang Echterhoff, Betriebsrat und Vertrauensmann bei Nokia, bedankte sich nach fast dreistündiger Debatte bei Sevim Dagdelen und den rund 50 TeilnehmerInnen aus verschiedenen politischen Organisation von attac bis zum sozialen Zentrum: "Das wichtigste für uns ist jetzt die Solidarität aus der Bevölkerung und von Politikern, wo sie auch herkommen mag. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als im Kampf alleine dazustehen. Das wichtigste ist jetzt: Unterstützung hautnah vor Ort." Der nächste Aktionshöhepunkt sei der Familienprotesttag mit Menschenkette am 10. Februar. Bis zum 28. Februar – dem Tag, an dem im Konzern die Entscheidung über das Schicksal der Bochumer KollegInnen endgültig fallen soll – müsse der Druck auf Nokia deutlich erhöht werden. "Und dann sehen wir, wie´s weitergeht. Dann reden wir auch über weitere Aktionen und andere Kampfformen." Das Aus für Nokia in Bochum sei für Ende Juni geplant, "Also noch einige Monate, in denen die Belegschaft Kraft, Ausdauer und Unterstützung braucht."
Verzichten bringt nichts!
Michael Gerber, ehemals Betriebsrat bei Siemens/BenQ, hatte als Lehre aus dem verlorenen Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze in Kamp-Lintfort formuliert: "Durch Lohnverzicht sind keine Arbeitsplätze, keine Standorte zu sichern." Auch bei Siemens/BenQ hätten die Beschäftigten durch einen "Ergänzungstarifvertrag" brutalste Einschnitte hinnehmen müssen, Gehaltskürzungen und Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich. Auf bis zu 30 Prozent ihres Jahreseinkommens hätten sie verzichtet. Das Werk wurde trotzdem geschlossen. Und das Arbeitslosengeld sei wegen dieses Lohnverzichts dann deutlich niedriger gewesen. Auch wenn Erfahrungen von Siemens/BenQ nicht 1:1 auf Nokia übertragen werden könnten, seien ihm zwei Dinge wichtig. Erstens: Die Idee, ein Soli-Zelt zur "Klammer für die Belegschaft" und zum "Zentrum des Widerstandes" zu machen. "Die Belegschaft braucht einen Treffpunkt, wo sie sich unabhängig von Vorgesetzten austauschen kann." Zweitens: die Belegschaft müsse "eine dritte Kraft werden, die den Interessenvertretern, die der IG Metall und den Betriebsräten den Rücken stärkt, als Kraftzentrum und notfalls als Korrektiv". Auf "die Politik" aus Brüssel, Berlin oder Düsseldorf dürfe man nicht rechnen. Denn die Regierungen hätten erst die Voraussetzungen für das "Europa der Konzerne" mit all seinen negativen Auswirkungen geschaffen. Arbeitende Menschen müssten heute mehr denn je "auf die eigene Kraft vertrauen". Allein mit einer Menschenkette sei Nokia nicht zu beeindrucken. Michael Gerber schlug vor, Kurs auf einen "revierweiten Tag der Solidarität mit Nokia" zu nehmen und in möglichst vielen Orten Betriebsversammlungen mit Nokianern zu organisieren.
Die Linke: Mehr Mitbestimmungsrechte
Sevim Dagdelen als Gastgeberin der Matinee und auch die spontan angereiste Ulla Lötzer machten als MdB´s der Linkspartei deutlich, dass nicht alle Hoffnung auf Unterstützung von Seite "der Politik" vergeblich ist. Ihre konkreten Vorschläge: Gesetzliches Verbot von Massenentlassungen, wirksamere Kontrolle von Subventionsauflagen, mehr Mitbestimmung auch bei Investitionen, Vergabe von Investitionen nur in Form von Firmenbeteiligungen, Einbeziehung der Nokia-Betriebsräte und der IG Metall in die Gespräche der Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Der Gesetzgeber müsse die Sozialpflichtigkeit des Eigentums aus dem Grundgesetz Artikel 14/15 und Artikel 24 der NRW-Landesverfassung mit Leben füllen. Dafür sei aber mehr außerparlamentarische Bewegung nötig, so Sevim Dagdelen.
"Subventionierter Kapitalismus auf ewig?"
Günther Gleising: "Wollen wir auf ewig einen subventionierten Kapitalismus?"
Günther Gleising, DKP-Mitglied und für die "Soziale Liste" im Bochumer Stadtrat, stellte fest, dass der Kapitalismus derzeit bei vielen Menschen nicht gut abschneide. Seine Frage: "Wollen wir denn auf ewig einen subventionierten Kapitalismus? Oder könnten diese 80-100 Millionen Steuergelder, die allein Nokia bekommen hat, nicht besser investiert werden, um gesellschaftlich notwendige Arbeit zu finanzieren?" Ihm gehe es nicht nur um die Ausweitung des öffentlichen Sektors, sondern um die "Schaffung nicht-kapitalistischer Wirtschaftszweige" in Bund, Land und auch in den Kommunen. "Die Frage nach einer Beschäftigungs- und Zukunftsgesellschaft für Bochum ist doch durchaus sinnvoll." Hier seien kommunale Subventionsgelder besser angelegt als auf Konzernkonten. Aus der Kritik am Kapitalismus müsse man Kraft für alternative, gesellschaftliche Lösungen ziehen.
"Wir lernen täglich dazu!"
Im Hinblick auf die unterschiedlichsten politischen Argumente, Anregungen für den "Kampf um Nokia" und Erwartungen an die Belegschaft mahnte Wolfgang Echterhoff mehrfach Geduld an. Die Belegschaft sei erst in der dritten Kampfwoche, wolle sich nichts von außen vorschreiben lassen, lerne aber täglich dazu. In den ersten Tagen habe "heilloses Durcheinander" geherrscht. Viele KollegInnen seien "wie paralysiert, wie in einem Schock-Zustand" gewesen. Die Verzweiflung der ersten Tage sei erst nach dem "Tag der Solidarität" langsam in Wut und Widerstandswillen umgeschlagen. Allerdings vorwiegend bei den KollegInnen in der Produktion. Bei Angestellten und Ingenieuren "tendiert der Widerstand noch gegen Null". Besonders wichtig sei in der Tat das Soli-Zelt vor dem Werkstor. "Denn so ein Schock ist nur zu verarbeiten, so ein Kampf ist nur durchzustehen, wenn die Beschäftigten zusammenbleiben, anstatt sich allein zuhause im Keller einzuigeln." Hierbei sei das Soli-Zelt, das sie mit Hilfe von zwei IG-Metall-Kollegen von AEG-Nürnberg und BenQ Kamp-Lintfort organisiert haben, besonders wertvoll.
Politische Forderungen nach Enteignung der Konzerne, nach einer europäischen Sozialcharta, nach Ausfüllung des Grundgesetzes oder der NRW-Landesverfassung etc. interessierten die KollegInnen derzeit "überhaupt nicht vorrangig". Weil sie in ihrer jetzigen Situation nicht helfen, sondern erst in ferner Zukunft vielleicht mit viel Kraft erreichbar seien. Dann seien die meisten Nokianer schon in Rente. "Was die KollegInnen erwarten, ist einfach ganz viel Unterstützung. Der Nokia-Skandal muss jeden Tag in den Medien sein, muss jeden Tag Negativ-Schlagzeilen machen. Wenn der Standort Bochum nicht zu retten ist, dann muss die Schließung für die Nokia-Aktionäre richtig teuer werden! Und das Entscheidende ist: wir müssen Nokia als Fanal für die ganze Gesellschaft begreifen. Viele Nokianer, die früher dachten, geh´ weg mit der Politik, mir geht´s doch gut, wenn es dem Unternehmen gut geht, sind eines besseren belehrt worden. Heute muss doch jede andere Belegschaft, die ´nur´ 14 Prozent Rendite erwirtschaftet, Angstschweiß auf der Stirn kriegen."
Lothar Geisler