Grünbuch der EU-Kommission zum Recht auf Familienzusammenführung
1.)Stellungnahme der migrationspolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag, Sevim Dagdelen (MdB), zum Grünbuch der Europäischen Kommission zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86/EG) vom 15.11.2011, KOM(2011) 735 endgültig2.)Anregung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Verletzung von Unionsrecht durch Einführung einer Regelung, die den Nachzug zu legal in Deutschland lebenden Drittstaatsangehörigen vom Nachweis von Deutschkenntnissen eines bestimmten Niveaus abhängig macht
Sehr geehrte Damen und Herren,zu 1)die Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag, deren migrationspolitische Sprecherin ich bin, setzt sich für ein möglichst umfassendes Recht auf Familienzusammenführung ein, das insbesondere auch nicht von der ökonomischen und sozialen Lage der Betroffenen abhängig gemacht werden sollte. Insofern sehen wir auch einige Anforderungen der Richtlinie, etwa zur Lebensunterhaltssicherung, kritisch, die im Grünbuch nicht in Frage gestellt werden.
Die Umsetzung der Familienzusammenführungs-Richtlinie in Deutschland im Jahr 2007 kritisieren wir insbesondere deshalb, weil sie dazu genutzt wurde, um den Familiennachzug nach politischen Nützlichkeitserwägungen des Aufnahmelandes einzuschränken. Die Neuregelung der Sprachnachweise im Ausland wirken sozial selektiv, sie treffen insbesondere ökonomisch, sozial und bildungsschwache Menschen, ältere Menschen, Analphabetinnen und Analphabeten, die ländliche Bevölkerung mit schwierigem Zugang zu Sprachkursen usw. Die von der deutschen Gesetzeslage geforderten mündlichen und schriftlichen Sprachkenntnisse auf dem Niveau A1 GER – ohne allgemeine Härtefallregelung – stellen nach unserer Kenntnis auch die höchsten Anforderungen in der Europäischen Union dar.
Die Behauptung der Bundesregierung, die Neuregelung solle angeblich dem Kampf gegen Zwangsverheiratungen bzw. einer besseren (Vor-) Integration der Betroffenen dienen, war von Anfang an nicht nachvollziehbar und bleibt bis heute ohne Beleg.
Die Fraktion DIE LINKE. hat seit 2007 zahlreiche parlamentarische Initiativen zur Rückgängigmachung dieser Verschärfung des Ehegattennachzugs unternommen, darunter mehr als 15 Kleine Anfragen an die Bundesregierung. Der Schwerpunkt der nachfolgenden Stellungnahme liegt deshalb bei der ausführlichen Beantwortung der Fragen zu 5 („Integrationsmaßnahmen"), zu denen sich aus diesen parlamentarischen Anfragen umfangreiche statistische und argumentative Erkenntnisse ergeben, die der EU-Kommission hoffentlich von Nutzen sind bei der Beurteilung der Umsetzung der Richtlinie in Deutschland bzw. des entsprechenden Änderungs- oder Klarstellungsbedarfs.
Zu 2)
Erfreut habe ich die Stellungnahme der EU-Kommission vom 4. Mai 2011 (Sj.g<2011>540657) in dem Verfahren des Europäischen Gerichtshofs C-155/11 PPU „Imran" zur Kenntnis genommen, weil sie auch meiner Lesart der Richtlinie entspricht.
Demnach dürfen Integrationsanforderungen und Sprachtests dem Ziel einer erfolgreichen Familienzusammenführung nicht entgegenstehen. Vielmehr ist es nach dieser Stellungnahme verboten, „dass ein Mitgliedstaat einem Familienmitglied … ausschließlich aus dem Grund die Einreise und den Aufenthalt verweigert", weil eine „vorgeschriebene Eingliederungsprüfung im Ausland nicht bestanden" wurde. Berücksichtigt werden müssten die Richtlinienziele einer Begünstigung der Familienzusammenführung und einer Angleichung des Rechtstatus rechtmäßig in der EU lebender Drittstaatenangehöriger an den Unionsbürgerstatus, genauso wie die Grundrechte-Bestimmungen zum Schutz der Familie und des Kindeswohls und die Verpflichtung zu einzelfallbezogenem und verhältnismäßigem staatlichen Handeln. Integrationsmaßnahmen dürften auch nicht als „Ausschlusskriterium" oder „Einreisebedingung" fungieren. Ausdrücklich heißt es: „Wenn beispielsweise ein Minimum an Sprachkenntnissen bzw. soziokulturellem Wissen verlangt wird, dann muss es dem Ausländer vom Mitgliedstaat auch effektiv ermöglicht werden, sich diese Fähigkeiten aneignen zu können".
Die deutsche Regelung aber überantwortet die Verpflichtung zum Spracherwerb ausschließlich den Betroffenen, egal wie kostenintensiv, zeitaufwändig, möglich oder unmöglich dies im Einzelfall ist, und kennt nicht einmal eine allgemeine Härtefallregelung.
Vor diesem Hintergrund wundert es mich, dass die EU-Kommission – soweit ersichtlich – bislang noch kein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet hat, obwohl die deutsche Regelung der Sprachanforderungen im Ausland eindeutig ihrer Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie widerspricht.
Ich möchte die Gelegenheit zur Stellungnahme zum Grünbuch deshalb zum Anlass nehmen, ein entsprechendes Vertragsverletzungsverfahren anzuregen. Ich habe diese Stellungnahme deshalb auch in zweifacher Ausfertigung beigelegt und bitte um Weiterleitung an die zuständigen Stellen innerhalb der Kommission. Zur Begründung wird insbesondere auf die Ausführungen zu Frage 5 Bezug genommen.
Eine rechtliche Klärung ist meines Erachtens deshalb besonders wichtig, weil eine Entscheidung des EuGH im Verfahren „Imran" im letzten Jahr bekanntlich nur deshalb ausblieb, weil der betreffende Mitgliedstaat im Einzelfall eine Einreiseerlaubnis ohne vorherigen Test erteilte.
Hinsichtlich des weiteren Fortgangs eines möglichen Vertragsverletzungsverfahrens bzw. der Überlegungen der EU-Kommission hierzu erbitte ich Sie höflichst um weitere Unterrichtung.
Mit freundlichen Grüßen
Sevim Dagdelen