In der Tageszeitung junge Welt ist am 25. Juni von Sevim Dagdelen der Gastkommentar „Kein Ende Erdogans“ zur Bürgermeisterwahl in Istanbul erschienen:
Der Wahlsieg des CHP-Politikers Ekrem Imamoglu in Istanbul ist eine Zeitenwende. Viele jubeln zu Recht und beschwören schon das Ende des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Aber jedes Läuten des Totenglöckchens für sein System wäre verfrüht. Zur Erinnerung: Dies ist nicht die erste Wahl, die Erdogan verliert. Auch bei der Parlamentswahl im Juni 2015 hatte die AKP das Nachsehen. Erdogan spielte auf Zeit, intensivierte den Terror gegen die Opposition und stellte sich zugleich als Law-and-Order-Mann dar. Bei der Neuwahl dann im November konnte er die Opposition an die Wand quetschen.
Auch wenn Istanbul für das korrupte Machtgefüge der AKP verlorengeht, hält Erdogan weiter alle Machtmittel in der Hand. Jede Opposition muss seine gleichgeschaltete Presse und die willfährige Justiz fürchten. Allein die schwierige außen- und wirtschaftspolitische Situation in der Türkei lässt Erdogan den Zeitpunkt für einen Angriff auf Imamoglu verschieben. Denn der Staatschef scheint sich außenpolitisch zu verzocken. Mit dem NATO-Partner USA verdirbt er es sich durch die Bestellung des russischen Luftabwehrsystems S-400. Mit Russland sind die Beziehungen wieder aufs Äußerste angespannt, da die Türkei in der syrischen Provinz Idlib islamistische Mörderbanden unterstützt, die auch die russischen Militärbasen am Mittelmeer angreifen. Wenn die USA am 31. Juli Sanktionen gegen die Türkei wegen des Einkaufs des S-400 verhängen sollten, wird sich die ohnehin schon angespannte wirtschaftliche Lage am Bosporus weiter zuspitzen. Das Wohlstandsversprechen, das die AKP an der Macht gehalten hat, würde dann offenkundig obsolet.
Im Konflikt mit den USA und Russland kann Erdogan ausgerechnet auf deutsche Konzerne und die Bundesregierung für seine Rettung setzen. So bemüht sich die Bundesregierung um eine Ausweitung der Zollunion, die, Studien zufolge, einen Anstieg des türkischen Bruttoinlandsprodukts von 1,3 Prozent bringen würde. Zugleich ist VW – offenbar unterstützt vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil – mit Erdogan über eine Investition in der Nähe von Izmir in Höhe von 1,3 Milliarden Euro in diesen Tagen handelseinig geworden. Es ist fatal, dass die deutsche Bundesregierung so Erdogan nicht nur mit Rüstungsexporten und Finanzhilfen im Spiel hält.
Gar einen Anfang vom Ende Erdogans beschwören zu wollen, hieße, die Fähigkeiten des Moslembruders zur politischen Intrige völlig zu unterschätzen. Ekrem Imamoglu hat seinen Wahlsieg auch den kurdischen Stimmen zu verdanken. Wenn die kemalistische CHP jetzt nicht auf die HDP zugeht, um gemeinsam für einen demokratischen Neuanfang zu streiten, würde dies Erdogan erneut alle Karten in die Hände spielen, um die Opposition zu spalten und sich am Ende als Ordnungsfaktor zu präsentieren.