»Keine eigenen Erkenntnisse«
»Nach dem Tod von 300 unschuldigen Menschen beim Absturz von MH17 lässt uns das Verhalten Russlands keine andere Wahl!« Dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier zufolge waren weitere EU-Sanktionen wegen des vermeintlichen Verhaltens Russlands nach dem Abschuss der malaysischen Passagiermaschine in der Ostukraine im Juli unumgänglich. Der Umstand, dass die Schuldfrage des Abschusses von MH17 gar nicht geklärt war, interessierte zum damaligen Zeitpunkt weder den SPD-Mann Steinmeier noch seine EU-Kollegen. Und auch heute zeigt die Bundesregierung wenig Interesse an der von Steinmeier damals geforderten »schnelle[n] und unabhängige[n] Aufklärung des Absturzes«. Denn liest man die Antworten der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion, hat sie weder eigene Erkenntnisse noch scheint sie Bemühungen zu unternehmen, eigene über den Absturz der MH17-Maschine zu erlangen und wirklich aufzuklären. Weiß die Bundesregierung tatsächlich nichts, oder will sie nicht sagen, was sie weiß? Daran ändern auch die vermeintlichen Belege des BND für die Schuld der »prorussischen Separatisten« für den Abschuss nichts, die derSpiegel in seiner aktuellen Ausgabe kolportiert. So sind Geheimdienstinformationen immer zum einen grundsätzlich zu hinterfragen. Das betrifft gerade auch den Bundesnachrichtendienst. Dieser hatte maßgeblich mit falschen Informationen über angebliche Massenvernichtungswaffen (Stichwort »Curveball«) zum Beginn des Irak-Kriegs 2003 beigetragen.
In ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion (Bundestagsdrucksache 18/2535) verweist die Bundesregierung jedenfalls immer wieder lediglich auf den Zwischenbericht der niederländischen Untersuchungsbehörde oder bereits auf andere – allerdings anderslautende Fragen – gegebene Antworten. Aus dem am 9. September veröffentlichten Zwischenbericht geht aber gerade nicht hervor, wer MH17 abgeschossen hat. Es gäbe »keine Hinweise über die Herkunft der von außen in das Flugzeug eingedrungenen Objekte«, heißt es darin. Immerhin muss die Bundesregierung einräumen, dass die ukrainische Armee zum Zeitpunkt der Flugzeugkatastrophe im Raum des umkämpften Donezk Luftverteidigungssysteme des Typs BUK M1 im Einsatz hatte. Darüber hinaus will sie aber weder eine Aussage über die mögliche Übung des von Kiew kontrollierten 156. Fla-Raketenregiments, noch über die mögliche Teilnahme von zwei Kampfjets des Typs Su-25 an dieser Übung machen.
Zugeknöpft gibt sich die Bundesregierung auch bei Waffengeschäften, die die Ukraine noch unter Präsident Wiktor Janukowitsch mit Deutschland getätigt hatte als dieser noch ein angesehener Freund und Partner und nicht Feind und Diktator war. So wurden zwischen 2008 und 2013 zum Beispiel 20.000 halbautomatische SKS-Simonov-Gewehre aus der Ukraine nach Deutschland eingeführt. Genau die gleiche Zahl dieser Waffen verließ die BRD dann wieder Richtung Kanada, Tschechien und Schweiz. Sowohl der Im- als auch der Export fanden mit Genehmigung der deutschen Regierung statt. Die hiesigen Empfänger will die Bundesregierung genau so wenig benennen wie die Käufer in den besagten drei Ländern.
Eine Prüfung des Endverbleibs hat ebenfalls nicht stattgefunden. Die Bundesregierung habe für eine Weiterlieferung der zum »Weiterverkauf auf dem Zivilmarkt« in den genannten Ländern vorgesehenen SKS-Simonow-Gewehre an Syrien oder in andere Drittstaaten lediglich »keine Anhaltspunkte«. Allen Ernstes antwortet die Bundesregierung, dass sie durch »eine Internetrecherche« – also googlen – herausgefunden hätte, dass »Waffen des Typs SKS Simonow weiterhin auf dem kanadischen und schweizerischen Zivilmarkt erhältlich« seien. Wie viele der 20.000 halbautomatischen Gewehre sich noch in diesen Ländern befinden, lässt sich aber dadurch nicht herausfinden. Was mit den Waffen tatsächlich geschehen ist, scheint die Bundesregierung auch nicht zu interessieren. Der Verweis darauf, dass »das gegenwärtige System der Endverbleibskontrolle im Hinblick auf Verbesserungsmöglichkeiten, auch vor dem Hintergrund entsprechender Diskussionen in einschlägigen internationalen Foren«, geprüft wird, wirkt wie ein Placebo. Das umso mehr, da beispielsweise eine regelmäßige Berichterstattungspflicht als weder »üblich noch zielführend« abgelehnt wird. Anhaltspunkte hatte die Bundesregierung übrigens auch keine bezüglich der Waffenlieferung der Waffenschmiede Sig Sauer, die trotz Endverbleibserklärung nicht in den USA geblieben ist, sondern nach Kolumbien weiterverbracht wurde. Nun ist der Fall Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen. Das einzig effektive Mittel gegen solche Vorfälle ist und bleibt ein generelles Verbot von Waffenexporten – wovon weder Kanzlerin Angela Merkel noch ihr Vize, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, oder Außenamtschef Frank-Walter Steinmeier natürlich etwas wissen wollen.
Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke im Bundestag und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss
Quelle: junge welt