Kindeswohl muss vor Zuwanderungsrecht gehen
Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Kindernachzugsrecht am Kindeswohl ausrichten (BT-Drs. 17/12395)
DIE LINKE setzt sich seit langem für ein möglichst umfassendes Recht auf Familienzusammenführung ein, das insbesondere auch nicht von der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Betroffenen abhängig gemacht werden darf. DIE LINKE fordert, dass die zahlreichen Einschränkungen des Menschenrechts auf Familienzusammenleben in der Praxis endlich ohne Wenn und Aber beendet werden. So wie die Gesetzeslage und die Verwaltungspraxis insgesamt von einer generellen Abwehrhaltung, Misstrauen, Unterstellungen und Generalverdacht geprägt sind, zeigt sich auch beim Nachzug von minderjährigen Kindern von ausländischen Eltern dieser (Un)Geist der „Steuerung", und das meint vor allem „Begrenzung" von Migration. Auch wenn die Bundesregierung 2010 nach jahrelangen Verzögerns den Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen hat, lässt dies leider nicht darauf schließen, dass ihr das Kindeswohl im Zusammenhang der Migration tatsächlich am Herzen liegt.. Dagegen spricht bereits die Auffassung der Bundesregierung, dass die Rücknahme des Vorbehalts keine Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsgesetz und insbesondere bezüglich der Frage der aufenthaltsrechtlichen Handlungsfähigkeit Minderjähriger ab 16 Jahren bedarf. [den folgenden Satz habe ich nicht verstanden…:Die Beschränkung des Kindernachzugs auf das 16. Lebensjahr verhindert oft, dass der Aufenthaltswechsel zu einem für den Jugendlichen günstigeren Zeitpunkt erfolgen kann, also z.B. erst nach Abschluss einer Ausbildung.] In jedem Fall verhindert sie in vielen Fällen das Zusammenleben von 16- und 17-jährigen Jugendlichen mit ihren Eltern. DIE LINKE fordert auch die Berücksichtigung von familiären Bindungen über die Kernfamilie hinaus, wie es zum Beispiel im EU-Freizügigkeitsrecht der Fall ist – auch wenn auch diese Regelungen uns noch nicht weit genug gehen.
Auch wenn § 32 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und einige Stellen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, insbesondere bezüglich der Familienzusammenführung, eine Kindeswohlprüfung beim Kindernachzug vorsehen; ein systematisch und wirksam zu berücksichtigender Vorrang des Kindeswohls ist im Asyl- und Aufenthaltsrecht nicht verankert. Dass es letztlich wie beim Ehegattennachzug auch um eine soziale Selektion geht, zeigt, dass schonder theoretische Anspruch auf Leistungen des SGB II die Familienzusammenführung verhindert. Und das, obwohl in Deutschland generell Familien und Alleinerziehende besonders von Armut bedroht sind. Bei Migrantinnen und Migranten und hierbei insbesondere bei Ausländerinnen und Ausländern wissen wir, dass zu den finanziellen noch ausländerrechtliche Probleme hinzu kommen, die ihnen das Leben schwer machen (sollen). Eine tatsächliche Inanspruchnahme von sozialen Leistungen kommt für viele gar nicht oder nur teilweise in Frage, weil das den weiteren Aufenthalt gefährden könnte oder die Betroffenen dies zumindest fürchten müssen. Zwar wird der Bezug von Ausbildungsförderung bei der aufenthaltsrechtlichen Beurteilung inzwischen nicht mehr als „schädlich" angesehen. Ein indirekter Druck auf ausländische Kinder und Jugendliche, längere Ausbildungen zu meiden, besteht jedoch nach wie vor, weil sich das geringe oder fehlende Einkommenwährend einer Ausbildung oder des Studiums negativ auf den Status insbesondere auch von Familienangehörigen auswirken kann.
Auch die Verstöße gegen EU-Recht und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beim Kindernachzug sind eklatant. Insbesondere fehlt eine ernst zu nehmende individuelle Einzel- und Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie es z.B. im „Chakroun"-Urteil des EuGH gefordert wurde, wenn auch nur eine Nachzugsvoraussetzung nicht erfüllt ist. Den Nachzug von Kindern zu ihren Eltern zu verhindern mit der Begründung, dass der Lebensunterhalt um 20 Euro zu niedrig liegt, ist eben nicht nur offenkundig unmenschlich, sondern auch ein Verstoß gegen EU-Recht.
Eine besondere ausländerrechtliche Schikane und Diskriminierung ist im Gendiagnostikgesetzes festgeschrieben, wonach ausländischen und binationalen Familien weniger Schutzrechte zugestanden werden als anderen Personen, die sich einem Gen-Test unterziehen. Die Regelungen zur Durchführung eines Abstammungstestes dienen ausschließlich der Feststellung von biologischen Verwandtschaftsverhältnissen. Die in § 17 Absatz 8 des Gendiagnostikgesetzes enthaltene Sonderregelung beim Nachweis eines Verwandtschaftsverhältnisses unter anderem im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zum Familiennachzug muss ersatzlos gestrichen werden. Denn Migrantinnen und Migranten aus über 40 Staaten sind von einer diskriminierenden Praxis betroffen. Von ihnen werden Urkunden zum Nachweis der Verwandtschaft nicht anerkannt und auch andere behördliche Belege oftmals nicht akzeptiert. Den biologischen Abstammungsnachweis durch einen DNA-Test für diese Menschen zum maßgeblichen Kriterium für die Beurteilung der Familienbeziehung zu machen, haben wir damals abgelehnt und lehnen es heute ab. Denn Kindern von sozialen Vätern wird damit faktisch ihr Grundrecht auf Familienzusammenleben verwehrt. Beim Nachweis eines Verwandtschaftsverhältnisses bei Staatsangehörigen aus so genannten Problemstaaten mit – aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland – unzureichenden Urkundssystemen dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Im Zweifelsfall muss z. B. die Abgabe von Versicherungen an Eides statt zur Klärung der Familiensituation ausreichen, wenn keine gegenteiligen gesicherten Erkenntnisse vorliegen.
Im Zuwanderungsrecht hat das Kindeswohl grundsätzlich nur unzureichend Niederschlag gefunden, ganz zu schweigen vom Vorrang des Kindeswohls. Die UN-Kinderrechtskonvention verlangt eine vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Maßnahmen, unabhängig von Herkunft und Status des Kindes. Die bisherigen Bundesregierungen haben keine Abhilfe dafür geschaffen, die konventionswidrige Missachtung des Kindeswohls endlich zu beenden bzw. zu verhindern. DIE LINKE. fordert deshalb eine ausdrückliche Verankerung der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls im Asylverfahrens-, Asylbewerberleistungs- und Aufenthaltsgesetz. Die Familienzusammenführung muss so gestaltet werden, dass das Kindeswohl dabei Priorität hat. Das Recht auf ein wohlwollendes, humanes und beschleunigtes Verfahren muss in der Verwaltungspraxis umgesetzt werden.
Den Antrag der Grünen begrüßen wir unabhängig von unseren im Detail weitergehenden Forderungen, weil er unstrittige Probleme und Einschränkungen des Kindernachzugs aufzeigt und beseitigen will. Schade ist nur, dass er so spät in der Legislaturperiode eingebracht wird, denn eine ernst zu nehmende, gründliche Beratung dieses Antrags ist in der verbleibenden Zeit bis zur Sommerpause wohl nicht mehr zu erwarten.