Klischees bedient

Sehr geehrte Damen und Herren,

der heutige Artikel von Regina Mönch in der FAZ strotzt nur so vor anti-türkischen Klischees, Ressentiments und falschen und ausgrenzenden Pauschalisierungen. Dies alles richtig zu stellen, ist im Rahmen eines Leserbriefs unmöglich.

Weil sich Frau Mönch allerdings auch auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., die ich federführend erarbeitet habe, bezieht, möchte ich gerne folgende Punkte richtig stellen:

Regina Mönch unterstellt, alle türkischen Frauen, die als Ehefrauen nach Deutschland einreisten, seien Opfer von Zwangsverheiratungen oder arrangierten Ehen, wenn sie schreibt, dass „Anfang 2008 bei den Frauen aus der Türkei, die von türkischen Männern nach Deutschland geholt wurden [gemeint ist der Ehegattennachzug], noch nicht einmal die Hälfte des Niveaus aus dem Vorjahr erreicht" sei. Sie stellt dies sogar als „erstaunlichen Erfolg" dar, weil der Rückgang beim Ehegattennachzug infolge der neuen Sprachanforderungen „Mädchen, denen die Schule verweigert wird" treffe.

In der Tat geht aus der Antwort der Bundesregierung auf die besagte Kleine Anfrage hervor (vgl. BT-Drucksache 16/9137), dass der Rückgang des Ehegattennachzugs in Bezug auf die Türkei mit 46 Prozent (1. Quartal 2008 verglichen mit dem 1. Quartal 2007) anhaltend und dauerhaft ist – obwohl z.B. Frau Böhmer, aber auch die Bundeskanzlerin, versucht hatten, den Eindruck zu erwecken, angesichts der angeblich geringen Sprachanforderungen würde es zu keinen merklichen Einschränkungen des Ehegattennachzugs kommen. Entsprechend argumentieren die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen in den Bundestagsdebatten. Mich würde allerdings interessieren, wie sich Frau Mönch den Umstand erklärt, dass auch bei den türkischen Männern (!) der Rückgang des Ehegattennachzugs 44 Prozent beträgt, wie aus der Antwort der Bundesregierung ebenfalls hervorgeht. Ihre unbelegte – und angesichts der konkreten Schicksale, wie sie zum Beispiel vom Verein binationaler Familien und Partnerschaften dokumentiert werden, auch unerhörte – Unterstellung, der Rückgang betreffe überwiegend oder gar ausschließlich zwangsverheiratete Frauen, ist vor dem Hintergrund dieser Zahlen offenkundig falsch!

Weiter schreibt Frau Mönch, dass „türkische Großfunktionäre" (bereits dieser Begriff mit seinen intendierten negativen Assoziationen gerät in die Nähe der Volksverhetzung!) angeblich den neunziger Jahren nachtrauerten, „als alles noch nach dem Wunsch der Funktionäre lief, die enorme Sprachnot vor allem türkischer Migrantenkinder noch kaum diskutiert wurde und Minderjährige zwecks Zwangsheirat zu Tausenden einreisen durften".

Zur Information: der Anteil der unter 18-Jährigen beim Ehegattennachzug betrug im Jahr 2006 allgemein 0,75%, in Bezug auf die Türkei waren es in absoluten Zahlen 145 Mädchen, 73% aller nachziehenden weiblichen Ehegatten aus der Türkei waren hingegen älter als 21 Jahre; vgl. Migrationsbericht 2006, S. 92f; nach geltendem Recht kann „zur Vermeidung einer besonderen Härte" eine Aufenthaltserlaubnis im Rahmen des Ehegattennachzugs auch an Minderjährige erteilt werden; vgl. § 31 Abs. 2 AufenthG.

Sie unterstellt also tatsächlich, ein erwiesener Demokrat wie Kenan Kolat wünsche sich Zwangsverheiratungen minderjähriger Kinder, und sie unterstellt, dass die „Sprachnot" der türkischen Migrantenkinder in den 90er Jahren nicht Resultat der jahrzehntelangen deutschen Integrationsverweigerungspolitik, sondern Ergebnis mangelnder Diskussionsfreude türkischer Funktionäre gewesen sei. Welch ein hasserfüllter, verleumderischer Unsinn! Dass Frau Mönch allen Ernstes als angebliches Ziel der Integrationspolitik vor der jetzigen Bundesregierung benennt: „die Erhaltung der kulturellen Identität, zu der im Falle der Türkei minderjährige, sprachunkundige Bräute als selbstverständliche Besonderten gehörten", disqualifiziert sie ohne Weiteres als ernst zu nehmende Diskussionsteilnehmerin.

Frau Mönch sollte sich einmal fragen, warum auch Beratungsstellen und Organisationen, die zwangsverheirateten Frauen praktisch helfen und beistehen, die Beschränkung des Ehegattennachzugs durch Sprachanforderungen in Bezug auf Zwangsverheiratungen als wirkungslos bzw. in Bezug auf die Rechte von Frauen diskriminierend ablehnen.

Als regelmäßige Leserin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bin ich vom journalistischen (Un-)Vermögen der Autorin mehr als empört. Wenig Substanz viel Propaganda würde ich sagen.

In der Hoffnung, dass in Zukunft etwas mehr kritischer Journalismus bei Initiativen der Bundesregierung und weniger eine willfährige Hofberichterstattung stattfindet, verbleibe ich

Mit freundlichen Grüßen

Sevim Dagdelen

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Der Artikel von Regina Mönch in der FAZ von 14.07.2008:

Dreihundert Wörter für ein Leben im fremden Land von Regina Mönch

Etwa sechshunderttausend Mädchen wird in der Türkei immer noch der Schulbesuch verwehrt – trotz staatlicher Schulpflicht. In einigen Provinzen trifft es jedes zweite Mädchen zwischen sechs und vierzehn Jahren. Es fehlen Schulen, Lehrer, vor allem Lehrerinnen. Weite Wege zur nächsten Schule sind eine zusätzliche Hürde für Mädchen: Die strenggläubigen Eltern, die meist selbst nur über eine minimale Schulbildung verfügen oder Analphabeten sind, vermuten voreheliche Beziehungen bereits im Schulbus. Vor allem aber sind Mädchen unentbehrlich im Haus und auf dem Feld.

In den Bildungsberichten der Unesco taucht die Türkei deshalb immer noch auf den hinteren Plätzen der Einschulungsquoten auf. In den Statistiken von Unicef unterscheidet man auch bei weiterführenden Schulen die angemeldeten und die tatsächlich regelmäßig anwesenden Kinder; bei den Mädchen differiert diese Zahl um zwanzig Prozent. Jedes sechste türkische Mädchen wird zudem noch minderjährig verheiratet, über lange Jahre auch ohne Einspruch der Behörden nach Deutschland. Traditionelle Familien kaufen gern junge Frauen für ihre Söhne, auf dass Gehorsam und Abhängigkeit auch in Deutschlands ethnischen Kolonien gewahrt bleiben. Dieses Verhalten ändert sich gerade, wenn auch sehr langsam.

Ein Menschenrecht wird verletzt

Das Recht auf Bildung ist seit 1948 als elementares Menschenrecht anerkannt. Trotzdem spielt die Verletzung dieses Rechts im Fall der Türkei kaum eine Rolle, nicht einmal, wenn es um den EU-Beitritt geht. Zudem handelt es sich um eine kulturelle Differenz, die seit Jahrzehnten nach Deutschland importiert wird und sich natürlich auch hier auf den Schulerfolg beziehungsweise Misserfolg sehr vieler türkischer Kinder auswirkt, einerlei, ob sie vom Pass her Deutsche oder türkische Staatsbürger sind. Zu viele von ihnen sprechen kein Deutsch, obwohl sie hier geboren sind; nur eine Minderheit ist in Ausbildung.

Gleichwohl hat sich die Zahl der türkischstämmigen Studenten an deutschen Universitäten vervielfacht, so wie auf der anderen Seite der Skala die Zahl der Schulversager wächst. Auch diese Kluft zwischen Erfolgreichen und Gescheiterten wird der Aufnahmegesellschaft angelastet; Appelle an die Selbstverantwortung gelten nachgerade als unanständig. Doch während Aussiedlerkinder, fast alle im Ausland geboren, die höchste Ausbildungsquote aufweisen können, wird bei den mehrheitlich in Deutschland geborenen jungen Türken immer wieder die niedrigste festgestellt. Etwa die Hälfte der Zuwanderer aus der Türkei – mehr Frauen als Männer – hat keinen Beruf (Bildungsbericht 2008).

Enorme Kosten, unbefriedigende Erfolge

Den enormen Kosten allein für die Sprachförderung dieser Mütter und ihrer Kinder – Berlin gibt dafür zum Beispiel jährlich mehr als fünfzig Millionen Euro aus – stehen unbefriedigende Erfolge gegenüber. Was nur beweist, dass nicht jede Fehlentwicklung mit Geld auszubügeln ist und nicht jedes Bildungsdefizit umstandslos den Schulen angelastet werden kann. Trotzdem wird von den Schulen erwartet, dass sie ausgleichen, was Eltern nicht vermögen, die sich dafür auch nicht unbedingt interessieren. Vor allem die undifferenzierte Kritik gerade türkischer Migrantenvereine am deutschen Schulsystem hat eine ehrliche Ursachenerforschung bisher behindert.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bevor eine deutsche Regierung den Mut fand, auf den Missstand zu reagieren und eine echte Integrationspolitik einzuleiten. Dazu gehört unter anderem das vor einem Jahr geänderte Zuwanderungsgesetz, das den Familiennachzug durch Heirat, die faktisch einzige und trotzdem bisher kaum gestaltete Möglichkeit der Einwanderung nach Deutschland, neu regelt. Nicht mehr die Erhaltung der kulturellen Identität, zu der im Falle der Türkei minderjährige, sprachunkundige Bräute als selbstverständliche Besonderheiten gehörten, ist das Ziel. Wer nach Deutschland heiratet, muss jetzt erwachsen sein und über geringe Sprachkenntnisse verfügen.

Auch durch Fehlinformation nicht zu verhindern

Die Türkische Gemeinde, angeblich Deutschlands größter Dachverband, und einige Islamfunktionäre stiegen im Sommer 2007 mit großem Aplomb aus der Integrationskonferenz der Bundesregierung aus. Schließlich stellten sie der Bundeskanzlerin sogar ein Ultimatum, das Gesetz zurückzunehmen – unter Missachtung aller demokratischen Gepflogenheiten. Dem aggressiven Auftritt folgten zum Glück nicht, wie angedroht, „die Türken", als deren alleinige Interessenvertretung sich die Türkische Gemeinde gern ausgibt, sondern gerade mal hundert Demonstranten vor dem Kanzleramt. Die auch in Deutschland vielgelesene „Hürriyet" druckte damals das Konterfei der Kanzlerin auf ihrer Titelseite, darüber in gewaltiger Balkenschrift: „Blanker Rassismus". Im Rausch der Empörung verstiegen sich die Verbände gar zum Vergleich mit den Nürnberger Rassegesetzen.

Maria Böhmer, als Staatsministerin für die Integration der gut fünfzehneinhalb Millionen Zuwanderer verschiedener Generationen und Ethnien verantwortlich, bekam die Macht der Funktionäre auf ihrer Türkei-Reise zu spüren. Kenan Kolat, gerade wiedergewählter Präsident der Türkischen Gemeinde, hatte Böhmers Gesprächspartner in Ankara und anderswo nicht nur falsch informiert, sondern aufgefordert, mit „entschlossener Haltung" gegen die neuen gesetzlichen Regelungen vorzugehen. Er konnte dennoch nicht verhindern, dass die Staatsministerin auf glückliche Bräute traf, die sich bewusst waren, dass sie mit dem Sprachkurs eine kleine Freiheit gewonnen hatten.

Der Ehegattennachzug ging um siebenundsechzig Prozent zurück

Wer das Gesetz studiert, wird darin, im Gegensatz zu den Behauptungen der Vereine, keine Lex turcica entdecken. Die Anforderungen (dreihundert Wörter der deutschen Alltagssprache) gelten für alle – in den Niederlanden führte eine ähnliche Vorschrift (mit noch höherem Heiratsalter) zu einem Rückgang von fünfzig Prozent dieser Heiraten. Wahr ist am rhetorischen Getöse um ein vermeintliches Anti-Türken-Gesetz nur, dass andere Nationalitäten die Sprachprobleme kaum kennen. Um die türkische Community aber bildete sich eine fragwürdige Schutzgemeinschaft von Politikern der Linken und Grünen, die in der indirekten Aufforderung, das Recht auf Bildung im Heimatland der Bräute ernster als bisher zu nehmen, eine Menschenrechtsverletzung erkannt haben wollen.

Verteidigt werden damit nur Sonderrechte türkischer Männer auf eine traditionelle Lebensweise, in der Bildung eine marginale, Macht aber eine große Rolle spielt. In einer parlamentarischen Anfrage der Linken an die Bundesregierung ist die Rede von Verzweiflung und Wut angesichts dieses Aufwands für die Einwanderung in ein fremdes Land. Viele würden an der Hürde „erzwungener Sprachkenntnisse" scheitern, der Ehegattennachzug eindeutig behindert. In der Antwort aber kann, wer will, erstaunliche Erfolge erkennen. Innerhalb eines Quartals ging der Ehegattennachzug aus der Türkei um siebenundsechzig Prozent zurück. Mädchen, denen die Schule verweigert wird, scheitern unvermeidlich an der Dreihundert-Wörter-Hürde. Mittlerweile steigen die Zahlen wieder, hatten aber Anfang 2008 bei den Frauen aus der Türkei, die von türkischen Männern nach Deutschland geholt wurden, noch nicht einmal die Hälfte des Niveaus aus dem Vorjahr erreicht.

Zu viele Vokabeln aus dem deutschen Alltag

Natürlich sorgt das für Empörung unter türkischen Lobbyisten und Funktionären. Inzwischen wird das angeblich zu hohe Niveau der Sprachkurse des Goethe-Instituts beklagt. Es würden zu viele Vokabeln aus dem deutschen Alltag gelehrt, monieren die Kritiker, und zu wenige aus dem heimatlichen Kontext der Schülerinnen. Gegen den Strich gelesen, heißt das, dass die Bräute wenigstens etwas auf ihr schwieriges Leben im fremden Deutschland vorbereitet werden.

Mit dem Staatsbürgerschaftstest steht der nächste Konflikt vor der Tür. Großmäulig haben die Führer einiger türkischer Vereine gerade wieder die Integrationsministerin Böhmer angegriffen. Sie sei ihrer Aufgabe nicht gewachsen, unter anderem, weil sie den Einbürgerungstest unterstütze, den sie nicht einmal selbst bestehen würde. Auch vertrete sie einseitig Regierungspositionen – für türkische Großfunktionäre offenbar bereits jenseits ihrer Vorstellungen von Demokratie. Maria Böhmer zog darum ihre Zusage zurück, beim Bundeskongress der Türkischen Gemeinden zu reden. Die Herren ließen daraufhin verlauten, mit ihrer Absage habe Frau Böhmer „letzte Zweifel an ihrer Eignung für ihr Amt" beseitigt.

Warum inzenieren sich gerade die Deutsch-Türken derart?

Man raunte von Zensur und trauerte den neunziger Jahren nach, als alles noch nach dem Wunsch der Funktionäre lief, die enorme Sprachnot vor allem türkischer Migrantenkinder noch kaum diskutiert wurde und Minderjährige zwecks Zwangsheirat zu Tausenden einreisen durften. Im Internet konnte man nachlesen, dass diese nassforsche Ignoranz inzwischen vor allem Türken auf die Nerven geht, die sich von diesen Verbänden weder vertreten sehen noch diese Vertretung wollen. Vielmehr wollen sie endlich genau wissen, wie viele Mitglieder die zahllosen hoch subventionierten Einzelvereine der Türkischen Gemeinde eigentlich haben. Eine gute Idee.

Der zuweilen irrationale Eifer, mit dem deutsch-türkische Funktionäre ihre Deutungshoheit in Integrationsfragen verteidigen, hat offenbar vor allem ein Ziel: ihre Klientel im Zustand der Abhängigkeit zu erhalten. Warum sich gerade die Deutsch-Türken, nicht aber auch Vertreter anderer Minderheiten derart inszenieren, gehört zu den Fragen, über die endlich zu streiten wäre.