Kriegslügen damals und heute. Vor 20 Jahren begann der Jugoslawien-Krieg
Eröffnungsrede von MdB Sevim Dagdelen anlässlich der Öffentlichen Veranstaltung am 22. März 2019
Liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Gäste,
anlässlich des 20. Jahrestages des Beginns des Jugoslawienkrieges möchte ich an die traurige Aktualität der damaligen Ereignisse erinnern. Kriegslügen waren vor dem Angriff der NATO wie danach integraler Bestandteil der Kriegsführung.
Am 29. März 1999, kurz nach Beginn der NATO-Luftangriffe, ließ der damalige US-amerikanische Präsident Bill Clinton verkünden, dass der jugoslawische Präsident Slobodan Milošević seit langem „ethnische Säuberungen“ geplant habe und ohne ein Eingreifen der NATO auch durchführen würde.
Von diesem Tag an wurde diese Ansicht auch aus dem NATO-Hauptquartier gegenüber der Presse vertreten, ohne nähere Erläuterung jedoch.
Es blieb dem deutschen Verteidigungsminister Rudolf Scharping vorbehalten, diese Behauptungen auf die Ebene eines angeblichen Plans, des so genannten „Hufeisenplans“ zu heben.
Am 8. April 1999 versicherte Rudolf Scharping gegenüber der deutschen Öffentlichkeit, er verfüge über einen Operationsplan der serbisch-jugoslawischen Führung zur Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo.
Nach Scharpings „Tagebuch“ lagen am 31. März 1999 Hinweise für Beweise für einen „seit langem feststehenden Operationsplan“ für das „jugoslawische Vorgehen im Kosovo“ vor. Die Hinweise sollen sich am 2. April „verdichtet“ haben, bis der grüne Außenminister Joseph Fischer am 5. April schließlich dem Verteidigungsminister ein Papier überreicht hat, „das die Vorbereitungen und die Durchführung der ‚Operation Hufeisen‘ der jugoslawischen Armee belegt“. Dessen Auswertung lag Scharping am 7. April als „Beweis“ dafür vor, „daß schon im Dezember 1998 eine systematische Säuberung und die Vertreibung der Kosovo-Albaner geplant worden war, mit allen Einzelheiten und unter Nennung aller dafür einzusetzenden jugoslawischen Einheiten“.
Später stellte sich heraus, diesen „Hufeisenplan“ hatte es nie gegeben. Scharping und Fischer hatten die Öffentlichkeit dreist belogen.
Kriegslügen gehören zum Inventar des imperialistischen Krieges. Der an Militärakademien gern gelehrte chinesische Militärstratege Sun Zu schreibt dazu in seinem Buch „Die Kunst des Krieges“ aus dem 5. Jahrhundert vor Christus:
„Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.“
Kriegslügen als Mittel, den Widerstand des Feindes zu brechen, indem sie ihn moralisch ins höchst mögliche Unrecht setzen. Kriegslügen, um den Angriffskrieg, der völkerrechtlich geächtet ist, zum Akt der Verteidigung ja des Humanismus umzudeuten und zugleich den Gegner zu de-legitimieren.
Warum aber funktionieren Kriegslügen damals wie heute?
Ein anderer gern an Militärakademien gelehrter Militärstratege, Carl von Clausewitz schreibt dazu: „Der ganze Krieg setzt menschliche Schwäche voraus, und gegen sie ist er gerichtet.“
Die Kriegslügen sollen den Geist einer friedfertigen Öffentlichkeit für den imperialistischen Krieg aufschließen.
Zur Illustration, dass es sich um ein allgemeines Phänomen des imperialistischen Krieges handelt, nur einige wenige Beispiele nach dem Zweiten Weltkrieg:
- Der Tonking-Zwischenfall: Die USA behaupteten, dass am 2. Februar 1964 nord-vietnamesische Schnellboote US-Kriegsschiffe angegriffen hätten. Das war gelogen, aber die Legitimation für das direkte US-Eingreifen in den Vietnam-Krieg.
- Jugoslawien 1999 erwähnte ich bereits.
- 2003: Der Angriff der US-geführten Koalition der Willigen auf den Irak wurde durch die Lüge vorbereitet, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen. – Sie wurden später nie gefunden.
- 2011: Der NATO-Krieg gegen Libyen wurde legitimiert mit der Lüge Muamar Al-Gaddafi setze die Luftwaffe gegen die eigene Bevölkerung ein. Das einzige Flugzeug aber, das dann abhob, war eines unter Kontrolle der Aufständischen und auf Anfrage der Linksfraktion erklärte später die Bundesregierung, damals Mitglied im UN-SR, dass es keine Angriffe der Luftwaffe auf die Zivilbevölkerung gegeben habe.
- 2012 brach Deutschland die diplomatischen Beziehungen zu Syrien ab. Als Grund wurde das Massaker von Al-Hula angeführt. Die FAZ berichtete später auch anlässlich der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, dass dieses Massaker wahrscheinlich von der bewaffneten Opposition verübt worden war.
- Und 2019 in diesen Tagen läuft die ideologische Mobilisierung für einen US-Krieg gegen Venezuela auf Hochtouren. Nicht nur die humanitäre Situation wird als Kriegsgrund herangezogen, sondern auch die plötzliche Entdeckung nahöstlich-terroristischer Netzwerke in Venezuela durch US-Außenminister Pompeo.
Von Clausewitz können wir lernen, dass Krieg und die ihn legitimierenden Kriegslügen auf die menschliche Schwäche zielen, die Schwäche, einem propagandistischen Dauerfeuer nahezu aller Medien nicht standhalten zu können und in der Konsequenz, die Kriegslügen für wahr zu halten und damit entweder neutralisiert zu werden oder sogar ins Lager des imperialistischen Krieges hinüber zu wechseln.
Wenn wir am Frieden interessiert sind, müssen wir uns also gegen die Kriegslügen immunisieren – damals wie heute; dann müssen wir die Kriegspropaganda delegitimieren. Das ist für mich die vornehmste Aufgabe der Friedensbewegung heute. Die eigene Schwäche ernst nehmen, dagegen halten und sagen was ist.
Wenn wir am Frieden interessiert sind, müssen wir das Völkerrecht mit seiner Absage an imperialistische Kriege wie das Friedensgebot des Grundgesetzes ernst nehmen und verteidigen.
Was für die imperialistischen Kriege im Einzelnen gilt, gilt für das Kriegsführungsbündnis im Allgemeinen. Die NATO als Zentrale der imperialistischen Kriege versucht durch permanente Kriegslügen ihr Tun in das Licht einer legitimen Verteidigung zu rücken.
Dabei sprechen die Zahlen eine ganz andere Sprache.
Heute fast 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, ist die NATO das mächtigste und am schwersten bewaffnete Militärbündnis der Welt. Die Militärbudgets der NATO-Staaten zusammen belaufen sich auf mittlerweile über 1000 Milliarden US-Dollar. Die USA allein haben 2018 über 643 Milliarden US-Dollar für das Militär ausgegeben.
Zum Vergleich: Russland hat seinen Militärhaushalt 2018 das zweite Jahr in Folge gekürzt auf umgerechnet 63 Milliarden US-Dollar, der Wehretat der Volksrepublik China liegt bei 168 Milliarden US-Dollar. Die europäischen NATO-Staaten geben mehr Geld für Rüstung und Militär aus als Russland und China zusammen. Und trotz der ohnehin schon vorhandenen gewaltigen Übermacht rüstet die NATO immer weiter auf.
Wenn die NATO im kommenden Monat nun ihren 70. Gründungstag begeht, dann auch vor dem Hintergrund einer neuen Konfrontationspolitik gegenüber Russland. Die Lage hat sich mit der Kündigung des INF-Abrüstungsvertrags durch US-Präsident Trump mit Rückendeckung der NATO-Mitgliedsstaaten dramatisch zugespitzt. Die Bundesregierung übernahm hier ungeprüft Trumps Interpretation, dass Russland einseitig vertragsbrüchig und damit allein für dessen Ende verantwortlich sei.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas folgen hier der US-Führung so blind wie ihre Amtsvorgängern Gerhard Schröder und Joschka Fischer vor 20 Jahren, als diese deutsche Soldaten in den ersten Kampfeinsatz seit Ende des Zweiten Weltkrieges geschickt haben.
„Truth – it has been said – is the first casuality in war“ – Im Krieg – so sagt man – stirbt die Wahrheit zuerst. So beginnt das Vorwort des Sozialisten und britischen Labour Politikers Philip Snowden zum Buch von E. D. Morel „Truth and the War“ aus dem Jahr 1916. Richtig ist, die Wahrheit wird lange vor dem Krieg bewusstlos geschlagen. Die Kriegslügen beginnen lange vor dem ersten Schluss oder der ersten Bombe. 1999 war es nicht anders. Aufgabe von friedensliebenden Demokraten muss es sein, der Wahrheit wieder auf die Beine zu helfen.
Zur Rechtfertigung des Angriffskrieges hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder noch in der ersten Kriegsnacht in einer TV-Ansprache erklärt, die NATO wolle „weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg“. Ähnlich argumentierten der britische Premier Anthony Blair und US-Präsident Bill Clinton.
Es war eine von unzähligen Lügen in diesem ersten Krieg der NATO.
Der Krieg verhinderte die humanitäre Katastrophe im Kosovo nicht, er machte sie in dem bekannten Ausmaß erst möglich. Vertreibungen und Flüchtlingsströme setzten ein, nachdem internationale Organisationen wie die OSZE das Kosovo verlassen mussten und die NATO-Angriffe begonnen hatten. Die humanitäre Katastrophe, die zur Rechtfertigung des Krieges dienen sollte, musste erst herbeigebombt werden.
Zu den Sprachverdrehungen gehörte das Inabrede-Stellen von Krieg durch Kanzler Schröder gleich in der ersten Kriegsnacht: „Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.“
Der damalige NATO-Sprecher Jamie Shea erklärte die Toten des Krieges, der laut Schröder keiner war, die Toten in Belgrad und Pristina, in Novi Sad und Varvarin und unzähligen anderen Orten Jugoslawiens kurzerhand zu „Kollateralschäden“.
Der WDR-Film „Es begann mit einer Lüge“ dokumentiert, wie vom ersten Tag des NATO-Krieges an die deutsche Bevölkerung getäuscht wurde. Wie Tatsachen verfälscht und Fakten erfunden wurden, wie manipuliert und gelogen wurde. Denken wir nur an die Schauergeschichten über ein KZ im Fußballstadion von Pristina oder an „die Rampe von Auschwitz“, die Joschka Fischer im Kosovo ausgemacht hat.
Mit „Verschwörungstheorien“ und „Fake News“, wie man heute sagen würde, hat die SPD-Grünen-Regierung unser Land in den Krieg geführt.
„Es begann mit einer Lüge“, der Film von Jo Angerer und Mathias Werth, deckt die Manipulationen auf und erklärt, warum Belgrad zum Bombenziel wurde.
„Es begann mit einer Lüge“ ist ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. Der Film war Gegenstand auch erhitzter Debatten im Bundestag. Es ist angemessen, dass wir ihn uns noch einmal vergegenwärtigen. Er soll uns auch wappnen, für die Kriegslügen in diesen Tagen.
„Wir haben ein Recht, nicht belogen und betrogen zu werden“, hat Gregor Gysi in der Aktuellen Stunde des Bundestages nach der Erstausstrahlung der Dokumentation gesagt. Das Diktum gilt bis heute.
Wir sehen nun zunächst einen Filmausschnitt aus der Aktuellen Stunde des Bundestages vom 16. Februar 2001. Thema war „Die Haltung der Bundesregierung zur WDR-Dokumentation ‚Es begann mit eine Lüge‘“. Gezeigt werden die Reden von Gregor Gysi, Reinhold Robbe von der SPD und Wolfgang Gehrcke, den ich hier heute Abend ganz besonders begrüßen möchte.
In diesem Sinne: wer den Frieden verteidigen will, muss die Geschichte der gestrigen Kriegslügen kennen, um sich gegenüber den heutigen immunisieren zu können.
Foto: LT. STACEY WYZKOWSKI [Public domain], wikipedia.de