Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung zum Ehegattennachzug

Sehr geehrte Damen und Herren,

als migrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag möchte ich Sie im Zusammenhang mit dem Interview von Herrn Andreas Ross mit dem niederländischen Einwanderungsminister Gerd Lees in der FAZ vom 5.10.2011 (http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/f-a-z-gespraech-wer-die-anforderungen-erfuellt-ist-uns-willkommen-11483387.html) auf nachfolgenden Fehler hinweisen. Im Begleittext zum Interview schreiben Sie, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) „einige Verschärfungen in mehreren EU-Staaten wie die auch in Deutschland geltende Bedingung eines bestandenden Sprachtests vor der Einreise gebilligt" habe. Das ist falsch. Der EuGH hat bislang weder über die deutsche noch über eine andere Regelung befunden, mit der die Einreise von Familienangehörigen von einem bestandenen Sprachtest abhängig gemacht wird. Vielmehr hat es das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im März 2010 versäumt, die Frage der Vereinbarkeit einer solchen Beschränkung des Familiennachzugs mit der EU-Familienzusammenführungs-Richtlinie dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen, in der offenkundigen Fehlannahme, die Rechtsfrage sei bereits eindeutig entschieden.

Ein entsprechendes Vorlageverfahren eines niederländischen Gerichts wurde vor kurzem nur deshalb für erledigt erklärt, weil die niederländischen Behörden ein politisch nicht opportunes Grundsatzurteil des EuGH vermeiden wollten und der Klägerin deshalb die Einreise ohne vorherigen Sprachtest erlaubten. Im Rahmen dieses dann eingestellten Verfahrens hatte jedoch die EU-Kommission im Mai diesen Jahres schriftlich Stellung genommen. Ich hatte diese Stellungnahme vom Niederländischen ins Deutsche übersetzen lassen: Aus ihr geht eindeutig hervor, dass eine Regelung wie die deutsche, die ein bestimmtes Sprachniveau zur strikten Einreisevoraussetzung beim Familiennachzug macht, mit EU-Recht unvereinbar ist. Die Kommission stützt sich auf den klaren Wortlaut und die Systematik der Richtlinie, die zwar Integrationsmaßnahmen zur Förderung der Familienzusammenführung erlaubt. Diese dürfen jedoch nicht, so wörtlich, als „Ausschlusskriterium" oder zur „Einreisebedingung" gemacht werden und mithin auch nicht zur Ablehnung des Familiennachzugs führen. Auch vor dem Hintergrund der so genannten Chakroun-Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2010 spricht deshalb nahezu alles dafür, dass der EuGH die deutsche – wie auch die niederländische – Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug kippen wird. Für detaillierte Ausführungen verweise ich auf die jüngste von mir initiierte Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Thema (Bundestagsdrucksache 17/7012).

Interessant finde ich darüber hinaus, dass nach Ansicht der FAZ die von den Niederlanden geplanten Verschärfungen insbesondere der EU-Familiennachzugs-Richtlinie wegen des Assoziierungsabkommens nicht für türkische Staatsangehörige gelten würden. Die Bundesregierung versucht bis zum heutigen Tag zu leugnen, dass das EWG-Türkei-Assoziationsrecht eine solche hemmende Wirkung im Aufenthaltsrecht hat – mit unhaltbaren Argumenten (vgl. nochmals die bereits genannte Bundestagsdrucksache). Ob die von den Niederlanden angestrebten Einschränkungen des Familiennachzugs allerdings mit der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind, möchte ich bezweifeln.

Mit freundlichen Grüßen

Sevim Dagdelen, MdB