Mündliche Frage PlPr 17/145: Auslegung des Verschlechterungsverbots des EWG-Türkei-Assoziationsrechts

Wieso sieht die Bundesregierung keinen Anlass, sich mit der niederländischen Regierung über die Frage der Anwendung und Auslegung des Verschlechterungsverbots des EWGTürkei-Assoziationsrechts auszutauschen (vergleiche Plenarprotokoll 17/138, Seite 16445), obwohl diese ganz im Gegensatz zur Bundesregierung das für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gültige Assoziationsrecht so auslegt, dass von türkischen Staatsangehörigen zum Beispiel keine Sprachnachweise im Ausland als Voraussetzung für den Ehegattennachzug verlangt werden dürfen, und inwieweit hält die Bundesregierung einen Verweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2010 noch für tragfähig, nachdem dieses vom Gericht selbst in einer anderen europarechtlichen Frage als überholt bezeichnet wurde (Beschluss 1 V 9.10) und nach diesem Urteil weitere maßgebliche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ergangen sind, die damals noch nicht berücksichtigt werden konnten?

Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern:

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 30. März 2010 die Rechtsauffassung der Bundesregierung bestätigt, dass die Regelungen zum Sprachnachweiserfordernis mit europäischem Recht, insbesondere mit Art. 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie und dem Assoziationsrecht EU-Türkei, vereinbar sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem von der Fragestellerin zitierten Kostenbeschluss vom 28. Oktober 2011 im Verfahren lediglich darauf hingewiesen, dass die Europäische Kommission im Mai 2011 in einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof eine veränderte Rechtsauffassung vertreten hat. Entgegen der Darstellung der Fragestellerin hat sich das Bundesverwaltungsgericht dabei weder auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs berufen, noch kann man dem Kostenbeschluss entnehmen, dass das Bundesverwaltungsgericht von seiner Auffassung, wonach das deutsche Sprachnachweiserfordernis mit Grundgesetz und europäischem Recht vereinbar ist, abweichen wollte.

Die Bundesregierung hält ebenfalls an dieser Rechtsauffassung fest. Unbeschadet der Tatsache, dass die Europäische Kommission in der Frage der Vereinbarkeit der Sprachnachweisregelung mit der Familienzusammenführungsrichtlinie eine andere Rechtsauffassung als die Bundesregierung vertritt, bleibt der EuGH zur abschließenden Auslegung des Gemeinschaftsrechts berufen. Der EuGH hat sich zu dieser Rechtsfrage noch nicht geäußert. Vor diesem Hintergrund besteht aus Sicht der Bundesregierung kein Anlass für Gespräche mit der niederländischen Regierung über die Vereinbarkeit nationaler Sprachnachweisregelungen mit dem europäischen Recht.

Vizepräsident Eduard Oswald:

Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Dagdelen.

Sevim Dagdelen (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, man kann es sich natürlich einfach machen, indem mannur das wiederholt, was man bis vor kurzem auch immer behauptet hat: dass das Gericht in seiner Entscheidung vom März 2010 nicht von seiner Auffassung abgerückt ist. Fast alle Expertinnen und Experten in der Fachwelt sagen aber genau das Gegenteil von dem, was Sie hier behaupten.

Natürlich ist mir die Rechtsauffassung der Bundesregierung aufgrund der Antworten auf die vielen Kleinen Anfragen, die wir in dieser Sache gestellt haben, seit längerem bekannt. Eines verstehe ich aber nicht: Das Assoziationsabkommen gilt doch für alle EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen und mit gleichem Inhalt. Wenn man nun sieht, dass die Niederlande, die, wenn ich das so sagen darf, nicht unbedingt eine migrantenfreundliche Regierung haben – schließlich wird sie vom Rechtspopulisten Wilders gestützt –, zu dem Schluss gekommen sind, dass Gesetzesverschärfungen durch die Einführung von Regelungen bezüglich der Sprachanforderungen mit dem Verschlechterungsverbot des Assoziationsrechts unvereinbar sind, dann darf das der Bundesregierung nicht egal sein. Irgendein Land – entweder Deutschland oder die Niederlande – muss ja bei der Umsetzung dieses Assoziationsrechts im Unrecht sein.

Insofern möchte ich gerne wissen: Warum wird seitens der Bundesregierung nicht der Versuch unternommen, sich hier auszutauschen, um eine EU-einheitliche Umsetzung des Assoziationsrechts zu erreichen, bzw. sich wenigstens über die unterschiedlichen Anwendungspraxen und juristischen Argumente auszutauschen?

Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern:

Für uns ist nicht entscheidend, was ein niederländisches Gericht gesagt hat, sondern für uns ist erstens entscheidend, welche Gesetze der Deutsche Bundestag gemacht hat. Die Rechtslage in Deutschland ist so, dass ein Sprachnachweis erforderlich ist. Das halten wir als Bundesregierung auch für richtig und notwendig, weil das eine wichtige Maßnahme für eine bessere Integration ist.

Für die Bundesregierung ist zweitens maßgeblich, was deutsche Gerichte sagen. Das Bundesverwaltungsgericht hat ein entsprechendes Urteil gesprochen, und eine Verfassungsbeschwerde wurde nicht angenommen. Das ist für uns entscheidend.

Vizepräsident Eduard Oswald:

Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin.

Sevim Dagdelen (DIE LINKE):

Herr Staatssekretär, Sie irren schon, wenn Sie von einem niederländischen Gericht ausgehen. Es ging nicht um ein niederländisches Gericht, sondern es ging um den EuGH, der einen Einzelfall aus den Niederlanden betrachtet hat und kurz vor der Entscheidung stand. Daraufhin haben die Niederlande die Regelung zurückgezogen und ein Visum erteilt, ohne die Sprachkenntnisse verpflichtend zu machen und festzustellen. Die Regierung hat also sozusagen unter Vorwegnahme eines Entscheides des EuGH gehandelt, weil sie wusste, dass das, was in den Niederlanden geschehen und in Deutschland heute noch immer gültig ist, einfach Unrecht und mit dem Assoziationsrecht unvereinbar ist.

Ich frage mich, warum Sie noch immer mit diesem Verweis auf das Bundesverwaltungsgericht agieren, obwohl es von seiner Meinung vom März 2010 ziemlich abgerückt ist, dass diese Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug mit dem EU-Recht vereinbar sind. Da das Bundesverwaltungsgericht von seiner Entscheidung vom März 2010 abgerückt ist, kann sich die Bundesregierung heute doch nicht hier hinstellen und weiterhin genau auf dieses Urteil verweisen. Deshalb noch einmal meine Frage – es geht nicht um die politische Entscheidung–: Inwiefern überprüft die Bundesregierung überhaupt die Einheitlichkeit und die Vereinbarkeit mit dem Assoziationsrecht und dem Verschlechterungsverbot?

Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern:

Das niederländische Zentrale Berufungsgericht hat mit Urteil vom 16. August 2011 entschieden, dass es mit dem Assoziationsrecht EU – Türkei nicht vereinbar ist, von türkischen Staatsangehörigen in den Niederlanden einen Integrationstest zu verlangen. Die niederländische Regierung hat dieses Urteil dann so interpretiert, dass von türkischen Staatsangehörigen auch kein Sprachtest vor dem Ehegattennachzug verlangt werden kann, und die Rechtsanwendung entsprechend angepasst.

Der EuGH hat bislang keine Entscheidung zur Vereinbarkeit von Sprachnachweiserfordernissen mit europäischem Recht gefällt. Darauf möchte ich noch einmal hinweisen. Letztendlich ist das auch eine politische Frage. Solange es rechtlich möglich ist, einen solchen Sprachnachweis zu verlangen, werden wir das auch tun, weil wir der Meinung sind, dass es für diejenigen, die nach Deutschland kommen, um sich hier zu integrieren, von großem Vorteil ist, wenn sie wenigstens ein paar Worte Deutsch sprechen können. Das ist eine wichtige vorgelagerte Integrationsmaßnahme.