Mythos Fachkräftemangel – Wer Fachkräfte will, muss gute Arbeit schaffen und bessere Bildung ermöglichen
Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fachkräfte-Einwanderung durch ein Punktesystem regeln (BT-Drs. 17/3862)
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf der Internetseite meines geschätzten Kollegen Kilic von den Grünen
(Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich danke Ihnen!)
steht zum Punktesystem Folgendes:
Hier geht es um die Einwanderung von Fachkräften, die Deutschland in einigen Branchen dringend benötigt. Die in Arbeit stehenden ausländischen Fachkräfte werden mit ihren Steuerzahlungen dazu beitragen, unser Sozialversicherungssystem aufrechtzuerhalten. Sie, Herr Kilic, und die Grünen insgesamt so ist mein Eindruck verstehen Einwanderinnen und Einwanderer anscheinend nur als Ware.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie redest du wohl erst über nicht geschätzte Kollegen? – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! Oh! – Sie sind aber gemein zu uns!)
Sie beurteilen Migration bzw. Migrantinnen und Migranten nämlich fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des volkswirtschaftlichen Nutzenkalküls.
Dieses Zitat hört sich für viele Menschen in Deutschland gar nicht so schlimm an. In den 90er-Jahren war es noch verpönt, unter Nützlichkeitserwägungen über Menschen zu sprechen. Damals, Anfang der 90er-Jahre, als viele Asylbewerberheime brannten,
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es geht doch jetzt nicht um Asylbewerber! Es geht um Arbeitsmarktzuwanderer!)
war es verpönt, darüber zu sprechen, ob Menschen für unsere Gesellschaft nützlich sind oder nicht. Heute ist das anders, weil der neoliberale Mainstream mittlerweile überall fest verankert ist.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Allerdings! Selbst bei Herrn Kilic, wie Sie sehen!)
Ich kann den Grünen nur sagen: Eine auf der Basis von Arbeitsmarktkriterien betriebene und nur ökonomisch legitimierte Migrationspolitik führt zu sozialer Exklusion und rechtspopulistischen Ressentiments gegen Einwanderer und Minderheiten à la Sarrazin & Co.
(Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Und à la Lafontaine!)
Das ist die Erfahrung aus Kanada, meine Damen und Herren.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist die Selbstdisqualifizierung der Linken! – Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Aha! Die Linken wollen sich also abschotten!)
Sie sagen: Es gibt einen Fachkräftemangel. Ich sage: Das ist ein Mythos. Das denkt übrigens nicht nur Die Linke. So spricht zum Beispiel auch der Focus vom „Mythos Fachkräftemangel";
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Oh! Der Focus ist natürlich ein guter Kronzeuge! – Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt ja auch noch die Bild-Zeitung! Haben Sie da vielleicht auch etwas gelesen?)
der Focus ist wahrlich kein linkes oder linksliberales Blatt.
Hinzu kommt, dass es in Deutschland keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt, weder aktuell noch auf absehbare Zeit.
(Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Bei den Linken ist der Fachkräftemangel am größten!)
Das sagt selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin; auch das ist kein linksliberaler oder linker Thinktank.
Lesen Sie sich ruhig einmal den Wochenbericht Nr. 46 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom November letzten Jahres durch. Dann werden Sie erfahren, dass es für ein derzeit generell knappes Arbeitskräfteangebot keine Belege gibt. Weder die untersuchte Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt noch die Lohnentwicklung noch die Ausbildungssituation lassen den Schluss auf einen Fachkräftemangel zu. Die Studentenzahlen zeigen laut dieser Studie, dass der Bedarf in den akademisch-naturwissenschaftlich-technischen Berufen in den kommenden Jahren gedeckt werden kann.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und was machen wir jetzt? Müssen deshalb die Grenzen abgeschottet werden, oder was?)
Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit sieht keinen flächendeckenden Fachkräftemangel. Ich kann Ihnen aber sagen, woran es einen Mangel gibt: Es gibt einen Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen in Deutschland. Der Bedarf an Fachkräften könnte in Anbetracht der hohen Erwerbslosigkeit problemlos gedeckt werden, wie selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sagt. Doch wollen die deutschen Unternehmen auch das stellte dieses Institut fest nicht den gerechten Preis für eine gute Arbeit bezahlen.
An dieser Stelle verweist das DIW zu Recht auf die Lohnentwicklung. Die Preise sind in Deutschland und anderswo nach wie vor Indikator für Knappheiten auf den Märkten.
(Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Das ist auch gut so! Alles andere wäre Planwirtschaft!)
Wenn es also einen allgemeinen Fachkräftemangel gäbe, müsste er sich ja auch bei der Lohnentwicklung zeigen. Es zeigt sich aber, dass die Löhne in Deutschland immer noch sinken. Das heißt, die Lohnentwicklung in Deutschland macht deutlich, dass es diesen Fachkräftemangel so nicht gibt.
(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diese Logik kannst du für dich behalten! Die kann nämlich kein anderer verstehen!)
Meine Damen und Herren von den Grünen, eines finde ich unerträglich:
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha! Kommt jetzt etwa der Vorwurf „menschenverachtend"?)
Mit dem Punktesystem sollen ausländische Fachkräfte angezogen werden, um das deutsche Sozialversicherungssystem am Leben zu erhalten. War es nicht Rot-Grün, die mit der Agenda 2010, durch den Abbau von Sozialleistungen und die Entlastung von Unternehmen mehr Arbeitsplätze schaffen wollten? War es nicht Rot-Grün, die durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Einführung von Hartz-IV Hunderttausende in Armut und soziale Ausgrenzung getrieben haben,
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Falsches Thema!)
die die Beschäftigten durch eine drastische Kürzung des Arbeitslosengeldes und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen erpressbar gemacht haben
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was hat das denn mit Zuwanderung zu tun? So ein Unsinn!)
und Lohndumping Vorschub geleistet haben, vor allen Dingen durch Leiharbeit?
(Beifall bei der LINKEN – Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach! Sie spielen doch den einen gegen den anderen aus!)
Sie tun so, als würden ausländische Fachkräfte jetzt das Problem beheben können, das Sie geschaffen haben. Sie sagen: Deutschland braucht Fachkräfte. Wir als Linke sagen: Deutschland hat Fachkräfte.
(Beifall der Abg. Kathrin Vogler (DIE LINKE) – Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber scheinbar nicht in Ihrer Fraktion!)
Das Problem ist aber, Fachkräfte drehen Deutschland zunehmend den Rücken zu. Sie verlassen Deutschland. Wir haben gestern hier mit Herrn Bundesinnenminister de Maizière den Migrationsbericht 2009 beraten. Die bittere Erkenntnis aus diesem Migrationsbericht ist, dass Deutschland ein Auswanderungsland ist. Von den Deutschen, die aus Deutschland wegziehen und im Ausland erwerbstätig sind, hat etwa die Hälfte einen Hochschulabschluss,
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir können doch nicht wieder eine Mauer hochziehen!)
über 40 Prozent von ihnen besitzen einen mittleren Bildungsabschluss. Mehr als ein Drittel sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, knapp 20 Prozent Techniker und 17 Prozent Führungskräfte.
(Zuruf von der FDP: Weil wir so hohe Steuern haben!)
Mehr als die Hälfte der Deutschen, die im Jahr 2009 ins Ausland gezogen sind, war zwischen 25 und 50 Jahre alt, etwa ein Fünftel war jünger als 18 Jahre.
Es ist doch auch kein Wunder, dass diese Menschen gehen. Deutschland ist inzwischen ein Niedriglohnland geworden. Eine Ausbildung schützt längst nicht mehr davor, im Niedriglohnsektor zu landen. Laut Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen ist der Anteil der Betroffenen mit abgeschlossener Berufsausbildung zwischen 1995 und 2008 von 63,4 Prozent auf 71,9 Prozent gestiegen. Werden Erwerbstätige mit Hochschulabschluss dazu gerechnet, sind vier von fünf „Niedriglöhnern" so gut qualifiziert, um in Deutschland als Fachkraft oder auch als hochqualifiziert zu gelten.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb soll jetzt keiner mehr einwandern dürfen, oder was? Das ist eine komische Logik!)
Sie wandern aus, weil sie keine gut bezahlte Arbeit finden. Auch vielen Ostdeutschen ist es in den letzten 20 Jahren so ergangen. Und ein Ende ist mit Ihrer Politik einfach nicht in Sicht.
(Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist Ihre Lösung?)
Für die Fachkräfte mit Migrationshintergrund, Herr Kilic, ist ein Land einfach unattraktiv, in dem nicht erst die Sarrazin-Debatte rassistische Spuren hinterlassen hat. In einem so ausländerfeindlichen gesellschaftlichen Klima in Deutschland möchten viele Fachkräfte mit Migrationshintergrund einfach nicht leben.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben sie Ihnen das erzählt? Stand das im „Focus"?)
Ja, Herr Winkler, das erzählen mir viele. Und was ist Ihr Problem damit?
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb darf keiner mehr einwandern, oder?)
Das erzählen mir nicht nur viele, sondern es ist auch von Studien mehrfach belegt worden, dass viele Menschen auswandern, weil sie die Diskriminierungen in diesem Land einfach satt haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Das könnten Sie auch einmal bestätigen, denn Sie wissen sehr genau, dass das so ist.
Sie sagen, Deutschland brauche Fachkräfte, und Sie führen das auf die demografische Entwicklung zurück. Das ist moderne Kaffeesatzleserei. Wir werden uns jedenfalls nicht daran beteiligen, Prognosen über einen Zeitraum von knapp einem halben Jahrhundert abzugeben. Das ist einfach unseriös, und dies wird Ihnen jede Expertin oder jeder Experte bestätigen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich möchte vor allen Dingen noch einmal daran erinnern, dass Demografie auch immer wieder als Mehrzweckwaffe genutzt wird. Ich möchte daran erinnern, dass Anfang der 90er-Jahre viele Medien, aber auch viele Politikerinnen und Politiker die Demografie bemüht haben, um das Recht auf Asyl in Deutschland faktisch abzuschaffen. Damals hieß es: „Das Boot ist voll!" Heute heißt es: „Raum ohne Volk", wie der Spiegel schon im Jahr 2000 in reichlich geschmackloser Art titelte. Ich finde: Demografie ist kein Problem, was man sozusagen überhaupt nicht beeinflussen kann.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Linke will uns abschotten!)
Wenn es ein demografisches Problem gibt, liegt das daran, dass wir keine gute Familienpolitik, dass wir keine gute Arbeitsmarktpolitik und keine gute Bildungspolitik haben. Das alles ist veränderbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn Sie von Demografie sprechen, dann müssen Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass vor 100 Jahren auf einen über 65-Jährigen noch 12 Erwerbstätige kamen, vor 50 Jahren waren es noch sieben, vor 20 Jahren waren es vier. Ein Problem war das nicht; denn ein Problem mit der Demografie besteht nur bei sinkender Produktivität. Die Produktivität in Deutschland ist jedoch steigend und bildet so die Basis für die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, die nicht abgeschafft oder zerstört gehören wegen des Mythos demografischer Wandel.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben den Braindrain angesprochen. Ich kann nur dazu ermuntern, sich auch einmal die Entwicklungsländer anzuschauen, die ganz klar und deutlich sagen, sie wollen keine Fachkräfte, die sie in ihren Ländern unter ganz schwierigen Bedingungen ausbilden und für ihr Land und ihre Zukunft nutzen wollen, in die Industriestaaten schicken, damit sie dort dazu benutzt werden können, die Länder des Südens noch mehr auszubeuten und von den Industriestaaten ausgeplündert zu werden. Das ist keine Entwicklungspolitik, an der sich die Linke beteiligen kann.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Ja, ich komme zum Schluss. Sie haben ein Problem mit Fachkräften in Deutschland? Ich fordere darum, endlich eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage zu beschließen das hatte Rot-Grün vor Jahren einmal versprochen, aber nie eingeführt,
(Rüdiger Veit (SPD): Doch, wir haben es gemacht! Das ist im Bundesrat gescheitert! Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist im Bundesrat gescheitert! Machen Sie keine Geschichtsklitterung!)
damit jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz findet. Beschließen Sie ferner einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro; denn wir wollen nicht, dass Solidarität, Gleichheit
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Ja, das ist mein letzter Satz, Herr Präsident.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bitte kommen Sie zum Ende.
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Wir wollen nicht, dass Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit und Humanität hier im Säurebad der Konkurrenz verschwinden.
Danke.
(Beifall bei der LINKEN)