Neo-Rassismus „argumentiert mit Kultur"
Sevim Dagdelen („Die Linke") sieht Arbeit als Schlüssel zur Integration an. Sie kritisiert ein beengtes Verständnis von Rassismus in Deutschland. In der Kerem Kulturkneipe sprach sie vor mehr als 40 Zuhörern über Integration und Rassismus. Von Katja Butschbach
Delmenhorst. Als „sehr besorgniserregend" stuft die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen („Die Linke") die Ergebnisse einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ein: Die Forscher stellten eine Zunahme ausländerfeindlicher Haltungen in Deutschland fest. Zugleich warnte Dagdelen beim Diskussionsabend am Mittwoch in der Kerem Kulturkneipe vor einer neuen Form des Rassismus. Der „Neo-Rassismus" beziehe sich nicht mehr auf die Ethnie eines Migranten, sondern auf dessen Kultur, erklärte die integrations- und migrationspolitische Sprecherin der Linken vor mehr als 40 Zuhörern. „Dieser Rassismus argumentiert mit Kulturen, die als unveränderbar dargestellt werden."
„In Deutschland gibt es ein viel zu beengtes Verständnis von Rassismus", sagt sie. Oft werde darunter nur politisch organisierter Rechtsextremismus verstanden. „Aber nicht jeder mit rassistischen Denkansätzen ist ein Neonazi, der auf Migrantenjagd geht."
Angesichts dessen, dass Thilo Sarrazins Thesen („Deutschland schafft sich ab") auf breite Zustimmung stießen, brauche man in Deutschland eine ernste Debatte über Rassismus. Sie kritisiert: „Sarrazin hat bewusst das Stilmittel des Tabubrechers benutzt." Er stilisiere sich als „Sprachrohr vermeintlich unterdrückter Meinungen in Deutschland".
Zu den Ursachen einiger Integrationsprobleme sagte sie, dass fast ein halbes Jahrhundert lang kaum etwas für Integration getan worden sei. Stattdessen habe es Rückkehrprogramme für Migranten gegeben. „Bis in die 90er Jahre sind türkische Kinder in der Schule in den Türkischunterricht gezwungen worden – auch ich. Ich wollte nicht in den Türkischunterricht." Zweck sei eine Vorbereitung auf die Rückkehr gewesen. Vor diesem Hintergrund sei es „perfide und wahrheitswidrig und zynisch" zu sagen, dass Migranten integrationsunwillig seien. Sie bemängelte außerdem, dass „der Begriff ‚Parallelgesellschaft‘ nur auf die Gruppe mit muslimischem Hintergrund angewandt wird". Unter dem Begriff ließen sich aber ebenso Neonazi-Ansammlungen in einigen Ortschaften verstehen.
„Integration ist eine soziale Frage", meint Dagdelen zusammenfassend und betont: „Soziale Probleme dürfen nicht als ethnische betrachtet werden." Mit der Religionszugehörigkeit hätten Probleme von Migranten ebenfalls nichts zu tun. Dagdelen erinnerte daran, dass 55 Prozent der Migranten in Deutschland Christen seien und nur 22 Prozent Muslime.
Die Lebenswelt von Migranten werde insgesamt in starkem Maße von ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Milieus bestimmt. „Ein türkischer Arbeiter empfindet mehr Gemeinsamkeit mit deutschen Arbeitern als mit türkischen Unternehmern." Wie sehr diese These auf sein Unternehmen zutrifft, bekräftigte einer der Zuhörer in der anschließenden Diskussion. Er hatte beobachtet, dass besonders türkische Arbeiter streikwillig sind, sich mit dem gemeinsamen Anliegen identifizieren.
Doch was ist der Schlüssel zur Integration? Für Dagdelen ist es nicht die in diesem Zusammenhang oft erwähnte Bildung: Denn Jugendliche mit türkischem Namen, die sich für eine Arbeitsstelle bewerben, bekämen weniger Einladungen zu Vorstellungsgesprächen als junge Menschen mit deutschem Namen – selbst, wenn die türkischen Jugendlichen genauso gut oder besser qualifiziert seien. Somit sei letztlich die Arbeit der Schlüssel.