Neuer Imperialismus – Kosovo-Gutachten in Den Haag
Schon vorab hatten insbesondere die USA und Deutschland deutlich gemacht: Sie wollen unabhängig vom Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zur Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo mit ihrer Politik der Unterstützung der Sezession fortfahren. Vor dem IGH waren 15 der Anerkennerstaaten aufgetreten, darunter neben den USA auch Saudi-Arabien und Kroatien. Dagegen hatten u.a. China, Rußland, Venezuela, Bolivien, Spanien und Zypern argumentiert. Die Liste derjenigen, die den Separatismus des Kosovo bejahen, liest sich fast wie eine Aufzählung der »Koalition der Willigen« des Irak-Krieges. Jetzt werden die USA, aber auch Deutschland weiter Druck machen auf von ihnen abhängige kleinere Staaten, um diesen Kreis zu erweitern.
Klar ist: Mit der Anerkennungspolitik wurden Völkerrecht, UN-Charta wie auch die KSZE-Schlußakte von 1975 mit ihrer Festlegung, daß es keine einseitige Veränderung von Grenzen geben dürfe, de facto außer Kraft gesetzt. Der serbische Außenminister Vuk Jeremic hatte im Vorfeld des Gutachtens zu Recht darauf hingewiesen, daß – sollte der IGH sich für die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo verwenden – dies weltweit zu einer Eskalation von Konflikten führen werde. Angesichts dieses Szenarios war zu erwarten, daß der IGH ein uneindeutiges Gutachten verfassen würde, um gleichsam eine Quadratur des Kreises zu vollbringen: Sich gegen die Vorbildwirkung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung auszusprechen, aber gleichzeitig den USA und Deutschland als Meinungsführern der Anerkennungsfront nicht zu sehr auf die Füße zu treten.
Ersten Meldungen über das Gutachten zufolge kam es aber anders. Mit der Maßgabe, daß die Unabhängigkeit des Kosovo kein Verstoß gegen internationales Recht ist, haben die Richter eine neue Epoche eingeläutet. Damit sind alle Schutzklauseln, die aufgrund der Erfahrungen mit der aggressiven Außenpolitik des faschistischen Deutschlands in die UN-Charta aufgenommen wurden, in Frage gestellt. Das Gutachten bedeutet eine Stunde Null. Die Welt ist wieder auf das Zeitalter des Imperialismus zurückgeworfen. Die wesentlichen Grundzüge des Völkerrechts stehen zur Disposition. Man wird sich an diesen 22. Juli 2010 noch erinnern. Er wird als Tag in die Geschichte eingehen, an dem Interventionismus und Völkerrechtsbruch »Carte blanche« erteilt wurden. Seit gestern gilt in der internationalen Politik nicht nur de facto, sondern auch de jure das Recht des Stärkeren. Imperialistische Interventions- und Anerkennungspolitik wurden vom IGH mit dem Stempel »völkerrechtlich unbedenklich« versehen. Man muß aber davon ausgehen, daß der IGH und die Staaten von den USA bis Deutschland einen Bumerang geworfen haben, der sie eines Tages selbst treffen kann.
Die Autorin ist Sprecherin für internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke und Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages