Nicht-Umsetzung des EuGH-Dogan-Urteils ist organisierter Rechtsbruch

Deutsche Bundesregierungen haben bereits in der Vergangenheit vielfach die Rechte türkischer Staatsangehöriger, wie sie sich aus dem EWG-Türkei-Assoziationsabkommen und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ergeben, sehenden Auges missachtet. Diese Verweigerungshaltung und Brüskierung des EuGH wird nun bei der Nicht-Umsetzung des Dogan-Urteils des EuGH vom 10. Juli 2014 zu Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug in skandalöser Weise fortgesetzt. Bislang wurde zur Rechtfertigung zumeist behauptet, der EuGH habe eine konkrete Rechtsfrage angeblich noch nicht entschieden oder ein Urteil sei auf deutsches Recht nicht übertragbar. Schon das war in der Regel falsch, es verschaffte der Bundesregierung wegen der Trägheit der Rechtsprechung aber zumindest einige Jahre Verschnaufpause, während derer die Migrantinnen und Migranten weiter um ihre Rechte gebracht wurden, etwa bei der rechtswidrigen Gebührenerhebung für Aufenthaltstitel.

In der Rechtssache Dogan liegt der Fall nun aber anders: Das Urteil betraf explizit die deutsche Regelung der Sprachnachweise im Ausland als Bedingung des Familiennachzugs, und der Leitsatz des Urteils ist (eigentlich) unmissverständlich und klar: Diese Beschränkung des Ehegattennachzugs im Jahr 2007 war eine nach dem Assoziationsrecht verbotene Verschlechterung der Rechtslage, sie ist deshalb nicht auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar, für diese gilt das vorherige Recht. Punkt. Es muss daran erinnert werden, dass diese Einschätzung in der juristischen Fachliteratur bereits seit Jahren vertreten wurde, dass auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages und die EU-Kommission dieser Auffassung waren und dass nicht zuletzt die Fraktion DIE LINKE die Bundesregierung in zahlreichen parlamentarischen Anfragen und Anträgen darauf hingewiesen hat, dass die Rechte türkischer Migrantinnen und Migranten beim Ehegattennachzug offenkundig verletzt werden. Das Urteil des EuGH ist geltendes Recht, der EuGH legt das EU-Recht verbindlich und letztinstanzlich aus.

Doch was macht die Bundesregierung? Statt nach dem Dogan-Urteil von Sprachnachweisen beim Nachzug zu türkischen Staatsangehörigen abzusehen, wurde mit Erlass des Auswärtigen Amtes vom 4. August 2014 geregelt, dass – im Gegenteil – auch in diesen Fällen weiterhin Sprachnachweise zu erbringen seien. Lediglich in Härtefällen könnten Ausnahmen gemacht werden, wobei Bezug genommen wird auf entsprechende Vorgaben zur Härtefallprüfung infolge eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom September 2012 für den Ehegattennachzug zu Deutschen. Allerdings bringt diese Härtefallregelung in der Praxis kaum Erleichterungen, denn sie wird von den Visastellen nur sehr restriktiv umgesetzt. Dass etwa in Einzelfällen von vornherein auf unzumutbare Bemühungen zum Spracherwerb abgesehen wurde, ist mir nicht bekannt. Im Gegenteil, selbst wenn Ausnahmebedingungen offenkundig vorliegen, wird behördlicherseits auf mindestens einjährige Spracherwerbsbemühungen bestanden. In der Art einer Beweislastumkehr werden von den Betroffenen Nachweise verlangt, die belegen sollen, dass es nicht ihr Verschulden ist, dass sie die geforderten Deutschkenntnisse nicht innerhalb eines Jahres erwerben konnten und dass sie diesbezüglich alles ihnen Zumutbare unternommen haben.

Doch von diesem gar nicht unerheblichen Einwand einer in der Praxis kaum wirksamen Härtefallregelung abgesehen, ist die Einführung einer Härtefallregelung schlicht und ergreifend keine Umsetzung des Dogan-Urteils! Dort heißt es nicht etwa, dass die Einführung von Sprachtests im Ausland nur dann einen Verstoß gegen das Assoziationsrecht darstellt, wenn keine Härtefallregelung vorgesehen ist. Der EuGH befand vielmehr unmissverständlich und uneingeschränkt, dass diese gesetzliche Neuregelung eine nach dem Assoziationsrecht verbotene Verschlechterung und damit insgesamt unwirksam war. Im Erlass des Auswärtigen Amtes wird hingegen behauptet, der EuGH sehe nur bei einer automatischen Ablehnung ohne Prüfung der besonderen Umstände des Einzelfalls einen Verstoß gegen das Assoziationsrecht.

Das ist offenkundig falsch und juristisch unhaltbar. Zwar hat sich der EuGH in der Begründung seines Urteils kurz mit dem Vorbringen der Bundesregierung auseinandergesetzt, ein Abweichen vom Verschlechterungsverbot sei ausnahmsweise aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zulässig und der Zweck der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und der Förderung der Integration stelle ein solches Allgemeininteresse dar. Doch der EuGH erklärte hierzu lediglich, dass selbst wenn (!) man der Bundesregierung hierbei folge, ein Abweichen vom Verschlechterungsverbot in diesem Fall schon deshalb nicht zulässig sei, weil die deutsche Regelung über das zur Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgehe. Denn ein fehlender Sprachnachweis führe automatisch zur Ablehnung des Familiennachzugs, ungeachtet der besonderen Einzelfallumstände. Es ist also richtig, dass ein derart verhinderter Familiennachzug ohne Berücksichtigung der besonderen Einzelfallumstände unverhältnismäßig ist und gegen EU-Recht verstößt. Das auch! Aber in der Rechtssache Dogan wurde dies nicht näher ausgeführt, sondern vielmehr entschieden, dass die Einführung der Sprachnachweise in Deutschland insgesamt eine mit dem Assoziationsrecht unvereinbare und nicht gerechtfertigte Verschlechterung darstellt und deshalb nicht auf türkische Staatsangehörige anwendbar ist.

Bereits auf der formal rechtsstaatlichen Ebene ist die Bundesregierung nicht befugt, diesen klaren Urteilsspruch des EuGH umzudeuten. Für den Ehegattennachzug zu türkischen Staatsangehörigen gilt die Rechtslage von vor 2007, und die Exekutive ist nicht dazu berechtigt, diese Rechtlage durch einfache Erlasse einzuschränken. Ein solcher Eingriff in bestehende Rechte bedürfte einer gesetzlichen Regelung. Allerdings hätte der Gesetzgeber dabei die Vorgaben des EuGH zwingend zu beachten. Es ist meines Erachtens jedoch ausgeschlossen, dass eine Regelung der Sprachnachweise im Ausland den hohen Anforderungen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des EuGH entsprechen könnte, um das Verschlechterungsverbot auszuhebeln. Es müsste nicht nur ein zwingender Grund des Allgemeininteresses vorliegen, die ergriffene Maßnahme müsste zudem geeignet sein, die angestrebten Ziele zu erreichen, und sie dürfte auch nicht über das zur Erreichung der Ziele Erforderliche hinausgehen. Das sind weitaus höhere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit als nach bundesdeutschem Recht. Dem Bundesverfassungsgericht zufolge genügt diesbezüglich bereits die bloße Möglichkeit einer Zweckerreichung, und die richterliche Kontrolle beschränke sich auf die Prüfung, ob das gewählte Mittel „evident ungeeignet" sein könnte.

Antworten der Bundesregierung

An dieser Stelle ist es Zeit, auf die Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der LINKEN zu den Konsequenzen aus dem Dogan-Urteil einzugehen, denn zu den oben aufgeworfenen Fragen und Aspekten enthält diese einige spannende Antworten.

Bemerkenswert ist zunächst das Eingeständnis der Bundesregierung, dass der EuGH „in Bezug auf die Zulässigkeit neuer Beschränkungen … in seiner Entscheidung den Maßstab der ‚zwingende Gründe des Allgemeininteresses‘ angelegt hat und explizit offen gelassen hat, ob die von der Bundesregierung vorgetragenen Begründungen solche zwingenden Gründe sein können" (Frage 7). Auch nach Auffassung der Bundesregierung ist also völlig offen, ob ein Abweichen vom Verschlechterungsverbot mit der Begründung der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen oder der Förderung der Integration überhaupt zulässig wäre – ob die Maßnahme der Sprachtests im Ausland dann auch geeignet und verhältnismäßig wäre und nicht über das zur Erreichung des Ziels Notwendige hinausginge, ist damit noch nicht einmal ansatzweise geklärt. Vor diesem Hintergrund ist die Nicht-Umsetzung des Urteils skandalös, denn der eindeutige Inhalt des Urteilsspruchs kann nicht unter Hinweis auf eine Randbemerkung in der Begründung des Urteils ausgehebelt oder sogar ins Gegenteil verkehrt werden, zumal dort wichtige Fragen offen gelassen wurden.

Die Antwort der Bundesregierung ist noch in weiteren Punkten aufschlussreich: Auf die Frage (10), wie es denn nun um die Verhältnismäßigkeit der Regelung nach Maßgabe des EU-Rechts bestellt sei, lautete die Antwort der Regierung zum angeblichen Gesetzeszweck der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen: Es sei doch „denkbar, dass Personen versuchen könnten, den Sprachnachweis nicht zu erbringen, um auf diese Weise einer Zwangsverheiratung zu entgehen", das könne ein Sprachkurs im Inland nicht leisten. Unabhängig davon, dass die Betroffenen in diesen Fällen bereits zwangsverheiratet wurden und die Verweigerung des Zuzugs nach Deutschland vor allem dazu führt, dass die Opfer im familiären und gesellschaftlichen Umfeld verbleiben müssen, in dem die Zwangsheirat geschah, und dass sie keinen Zugang zu Beratungsstellen oder Hilfsangeboten in Deutschland erhalten – worauf auch Generalanwalt Mengozzi im Dogan-Verfahren hingewiesen hatte –, unabhängig davon also dürfte wohl niemand in den Ministerien des Bundes auch nur eine Sekunde lang der Auffassung gewesen sein, dass dieser völlig spekulative Verweis auf mögliche denkbare positive Auswirkungen der Gesetzesverschärfung in einzelnen Fällen den strengen Verhältnismäßigkeits-Anforderungen des EU-Rechts auch nur im Entferntesten genügen könnte. Die Erschwerung des Ehegattennachzugs durch Sprachtests im Ausland in allen Fällen (also auch, wenn keinerlei Anhaltspunkt für eine Zwangsverheiratung vorliegt, etwa beim Nachzug männlicher oder älterer Ehegatten) ist nicht verhältnismäßig, nicht zielführend und nicht geeignet, Zwangsverheiratungen zu verhindern.

Befragt danach, warum Sprachnachweise im Ausland unbedingt erforderlich seien zur Erreichung des angeblichen Ziels der Förderung der Integration und es auch keine anderen, milderen Mittel gebe, etwa der Spracherwerb im Inland, fällt der Bundesregierung schlicht keine Antwort ein (nachzulesen zu Frage 11). Stattdessen wird mit Blick auf bildungsbenachteiligte Menschen (Analphabeten, ländliche Bevölkerung, ältere Menschen usw.), die für die geforderten Sprachnachweise länger brauchen und damit auch eine längere Trennung von ihren Ehegatten hinzunehmen haben, erklärt: „Gerade in den Fällen, in denen Personen einen geringeren Bildungshintergrund haben, ist der Spracherwerb im Herkunftsland von besonderer Wichtigkeit. Durch eine Auseinandersetzung mit der Sprache des Aufnahmelandes wird gerade die Gruppe von bildungsferneren nachziehenden Ehegatten in die Lage versetzt, hier nicht von null anfangen zu müssen, sondern auf Vorkenntnissen aufbauen zu können" – wenn sie denn nach Jahren des vergeblichen Spracherwerbs dann endlich einreisen durften, vergaß die Bundesregierung hier zu erwähnen. Solch ein menschenfeindlicher Zynismus macht fassungslos. Eine Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, der Sprache, des Vermögens oder des Alters liege schon deshalb nicht vor, so die Bundesregierung, weil auch „Personen mit einem niedrigen Bildungsstand … in der Lage seien, einfache Sprachkenntnisse in einer Zweitsprache zu erwerben" (Frage 28). Ins Bild passt dann noch, dass die Bundesregierung auch den Verlust mehrerer Tausend Euro infolge des nicht wirksamen Ehegattensplittings, solange die Betroffenen noch nicht einreisen konnten, nicht bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigen möchte, denn dies sei lediglich eine „mittelbare Folge" der Nichterfüllung der gesetzlichen Anforderungen.

Befragt nach den zum Teil sehr hohen Ablehnungsquoten bei den Sprachtests im Ausland behauptet die Bundesregierung, sie habe zu den Gründen hierfür „keine Erkenntnisse" – eine besonders dreiste Lüge, enthält doch die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Auftrag gegebene „BAMF-Heiratsstudie 2013" unter anderem die Erkenntnis, dass es einen empirisch nachgewiesenen Zusammenhang zwischen formaler Bildung und erfolgreichem Zweitsprachenerwerb gibt und insbesondere die linguistische Nähe zwischen zwei Sprachen und die Verfügbarkeit von Sprachkursangeboten entscheidend für das Bestehen der Sprachtests im Ausland ist (nur etwa ein Fünftel der Betroffenen hat einen Zugang zu Deutschkursen des Goethe-Instituts im Ausland). Hierauf war die Bundesregierung in der Vorbemerkung der von mir initiierten Kleinen Anfrage ausdrücklich hingewiesen worden, und diesen Zusammenhang bestreitet sie auch nicht (Frage 28).

Die „BAMF-Heiratsstudie" enthält aber noch ein anderes wichtiges Ergebnis, das der deutschen Regelung die EU-Rechtswidrigkeit geradezu auf die Stirn schreibt: Demnach führt der erzwungene, häufig mühsame und sehr zeitaufwändige Spracherwerb im Ausland (Niveau A1) nicht einmal dazu, dass der dann später in Deutschland ohnehin erforderliche B1-Nachweis leichter, schneller oder häufiger gelingen würde (Fragen 11e und 30)! Der Spracherwerb im Ausland ist also erwiesenermaßen nicht einmal im Ansatz geeignet, nicht erforderlich und nicht verhältnismäßig in Bezug auf das Ziel einer leichteren Integration in Deutschland. Im Gegenteil: Der letztlich im Inland geforderte Spracherwerb auf dem Niveau B1 verlängert sich infolge der Auslagerung der ersten Schritte des Spracherwerbs ins Ausland, denn dort gibt es in der Regel keine vergleichbaren Sprachkursangebote wie in Deutschland und zudem liegt zwischen dem Sprachnachweis im Ausland und der Wiederaufnahme des Spracherwerbs im Inland eine mehrmonatige Wartefrist, bedingt durch das Visum- und Einreiseverfahren, die angesichts fehlender Anwendungsmöglichkeiten im Alltag häufig zum Verlust von bereits Gelerntem führt.

Und was sagt die Bundesregierung hierzu? Eigentlich nichts (vgl. Fragen 11 a bis e), außer, dass der Spracherwerb im Aus- und Inland „nicht miteinander vergleichbar" sei und aufeinander aufbaue. Zudem könne das Ergebnis der Studie doch als ein Beleg der „guten Qualität der Integrationskurse" in Deutschland gedeutet werden (Frage 30) – aber warum dann die Betroffenen mit aller Macht von diesen guten Integrationskursen in Deutschland ferngehalten werden und die deutsche Sprache zunächst unter oft schwierigsten Bedingungen im Ausland lernen sollen, das kann die Bundesregierung nicht erklären.

Bemerkenswert ist, dass die Bundesregierung inzwischen mehr oder weniger einräumt, was sie jahrelang geleugnet hat: Die strenge deutsche Regelung, die keine allgemeine Härtefallregelung vorsieht, verstößt offenkundig gegen EU-Recht! In der Antwort auf Frage 16 wird etwas nebulös formuliert, es sei auch nach dem Dogan-Urteil noch „nicht abschließend geklärt", ob „tatsächlich eine allgemeine Härtefallklausel für den Nachzug zu allen Drittstaatsangehörigen erforderlich und ausreichend wäre", doch im Erlass des Auswärtigen Amtes vom 4.8.2014 heißt es hierzu relativ unmissverständlich: „Das leitende Rechtsargument des EuGH, die fehlende Möglichkeit der Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalls, ist jedoch so grundsätzlicher Natur, dass auch solche Antragsteller [nicht-türkische Drittstaatsangehörige] härtefallbegründende Umstände gelten machen können". Was die SPD nach Außen hin als „Erfolg" bei der Umsetzung des Dogan-Urteils darstellen wollte, die Einführung einer Härtefallregelung infolge des Dogan-Urteils auch für nicht-türkische Drittstaatsangehörige, ist vor diesem Hintergrund nicht mehr und nicht Weniger als ein (zu) spätes Eingeständnis in die EU-Rechtswidrigkeit der deutschen Regelung.

Nicht wirklich überraschend, aber dennoch zu kritisieren ist, dass die Bundesregierung die Leitlinien der EU-Kommission vom April 2014 zur Anwendung der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie zum Thema Integrationsmaßnahmen vor der Einreise komplett ignoriert bzw. diese Leitlinien als bloße „Äußerung" der EU-Kommission, die „zur Kenntnis genommen" wurde, abtut. Alle wesentlichen von der EU-Kommission zu diesem Aspekt hervorgehobenen Punkte sprechen gegen die Vereinbarkeit der deutschen Regelung mit EU-Recht – die Bundesregierung will sich hiermit aber nicht auseinandersetzen und steuert lieber die nächste absehbare juristische Niederlage vor dem EuGH an.

Da kann es nicht trösten, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Anfrage der LINKEN mehrmals erklärt, der Erlass des Auswärtigen Amtes vom 4.8.2014 stelle nur eine „vorläufige Umsetzung" des Dogan-Urteils dar, im Übrigen würden die Auswirkungen und Reichweite der Entscheidung noch geprüft, ja, es werde sogar geprüft, ob die Regelung insgesamt aufgehoben werden soll, denn – so war jedenfalls die Einschätzung eines der „parlamentarischen Väter" der Regelung, Reinhard Grindel (CDU): Eine allgemeine Härtefallregelung würde „die ganze Vorschrift leerlaufen lassen". Gemeint ist: Durch eine wirksame Härtefallregelung würde gerade denjenigen der Familiennachzug ohne Sprachnachweise erlaubt, deren Einreise erschwert oder verhindert werden sollte: Bildungsbenachteiligte, Analphabeten, die ländliche Bevölkerung.

Es liegt meines Erachtens auf der Hand, warum die Bundesregierung den EuGH brüskiert und geltendes Recht offen missachtet: Mit dem Dogan-Urteil ist das politische Projekt der Rechten in Deutschland zur Steuerung und Begrenzung des Familiennachzugs faktisch gescheitert. Denn türkische Staatsangehörige waren die Hauptzielgruppe der Regelung, und wenn Sprachnachweise von dieser Einwanderungsgruppe nicht mehr verlangt werden können, dann ist die Beschränkung des Ehegattennachzugs selbst für die Befürworter dieser Regelung politisch unhaltbar geworden. Ohnehin gibt es eine kaum noch zu überblickende Zahl verwirrender und inkonsequenter Ausnahmeregegelungen, aufgrund gesetzlicher Bestimmungen oder infolge der Rechtsprechung. Damit bleibt am Ende vor allem die allseits beklagte Inländerdiskriminierung, und wie wollen CDU/CSU und SPD diesen deutschen Staatsangehörigen erklären, dass infolge der Ausnahmen nun vor allem ihr Recht auf Familienzusammenleben beschränkt wird, während beim Nachzug zu türkischen Staatsangehörigen, zu ausländischen Hochqualifizierten oder zu hier lebenden Staatsangehörigen aus San Marino – um nur ein paar Ausnahmen zu nennen – keine Sprachanforderungen mehr gelten?

Das Dogan-Urteil umzusetzen hieße also, die menschenrechtswidrige Beschränkung des Ehegattennachzugs durch Sprachanforderungen im Ausland in der Konsequenz insgesamt zu beenden. Dazu war diese Bundesregierung wegen der extrem hohen politischen Bedeutung des Themas (noch) nicht bereit, es blieb nur der offene Rechtsbruch als Alternative. Besonders empörend dabei ist allerdings, dass dieser Rechtsbruch vom SPD-geführten Außenministerium mit organisiert und maßgeblich ausgeführt wird – und das, obwohl die SPD vor der Wahl die Rücknahme der Regelung versprochen hatte, die von ihr im Jahr 2007 mit beschlossen wurde. Doch während die SPD vor sieben Jahren noch das – schon damals schäbige – Argument der Koalitionsräson bemühen konnte, gilt diese Ausrede im Jahr 2014 nicht mehr! Sie muss sich nur noch an geltendes Recht halten. Ist das schon zu viel verlangt?

Ich kann alle Betroffenen, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und Gerichte nur auffordern, gegen die unzureichende Umsetzung des Dogan-Urteils juristisch vorzugehen. DIE LINKE wird auf politischem Wege alles tun, um diesen organisierten Rechtsbruch zulasten vieler Tausender Migrantinnen und Migranten, die zwangsweise von ihren Ehegatten getrennt werden, schnellstmöglich zu beenden. Die Schikane muss ein Ende haben.

Quelle: MiGAZIN