Nibelungentreue beenden – Bundeswehr aus der Türkei abziehen
Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012 Drucksache 18/3698
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Leider ist Bundesaußenminister Steinmeier bei dieser wichtigen Debatte nicht zugegen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Der musste weg! – Dr. Rolf Mützenich (SPD): Weil er mit dem iranischen Außenminister spricht!)
– Ich habe „leider" gesagt. Ich habe gar nicht hinterfragt, ob das berechtigt oder nicht berechtigt ist.
Man muss zunächst einmal konstatieren, dass die Bundesregierung mit dieser Einsatzverlängerung für die Bundeswehr die deutsche Öffentlichkeit schlicht hinters Licht führt.
Zunächst einmal stimmen die Begründungen in keinster Weise. Sie sagen, Sie kämen Erdogan gegen die syrische Bedrohung zur Hilfe. Dazu wurden im Wesentlichen drei Vorfälle als Grundlage für diesen Einsatz angeführt, bei denen Syrien türkische Souveränität verletzt haben soll.
Da ist zunächst einmal der Abschuss eines türkischen Militärflugzeugs durch die Syrer. Das Erdogan-Regime sagte, der Abschuss ist über internationalem Luftraum erfolgt. Aber der NATO-Bericht äußert große Zweifel an der Version der Türkei. Darüber hat Monitor noch im vergangenen Jahr berichtet. All diese Berichte scheinen Sie schlicht nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen.
Zweitens führten Sie das Attentat in der Stadt Reyhanli an. Bis heute gibt es keine Feststellung, dass Täter die Syrer sind. Es gibt im Gegenteil jedoch zahlreiche Berichte, die in die Richtung des türkischen Geheimdienstes weisen.
Auch die dritte Begründung für diesen Einsatz, der Granatenbeschuss von türkischem Territorium durch die syrische Armee, ist sehr zweifelhaft angesichts dessen, dass dieser Beschuss offensichtlich aus den von den Rebellen kontrollierten Gebieten kam.
Trotz dieser fragwürdigen Begründungen durch die Türkei für diesen Einsatz bezeichnen Sie die Türkei als einen vertrauensvollen Partner, der Solidarität und Zuverlässigkeit verdient und dem es mit der fortgesetzten Stationierung der Patriots unter die Arme zu greifen gilt. Sie gehen sogar so weit, Erdogan Besonnenheit gegenüber Syrien zu attestieren.
Doch ich frage Sie von der Regierung: Verhält sich der NATO-Partner Türkei gegenüber den Menschen in Syrien tatsächlich besonnen? Im letzten Jahr griffen islamistische Terroristen das armenische Dorf Kassab im Norden Syriens von der Türkei aus an und zerstörten dort die christlichen Kirchen und verwüsteten das ganze Dorf. Kassab ist vom türkischen Territorium fast komplett umschlossen, kann man sagen. Meinen Sie deshalb wirklich, es sei der türkischen Regierung verborgen geblieben, dass islamistische Gotteskrieger mit schweren Waffen von ihrem Territorium aus auf Kassab schießen? Wie wollen Sie eigentlich Ihr Attest der Besonnenheit für Erdogan den Nachfahren der Überlebenden des Völkermords an den Armeniern, der sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt, erklären, die jetzt vor diesen islamistischen Gotteskriegern flüchten müssen, die sie von türkischem Territorium aus angreifen?
(Beifall bei der LINKEN)
Sie sagen jetzt: Die Türkei muss mehr gegen den Terror tun. – Aber angesichts des Verhaltens der türkischen Regierung klingt dies zumindest in meinen Ohren wie blanker Hohn. Denn wie können Sie mit Ihrem Attest der Besonnenheit für das Erdogan-Regime den Menschen in Kobane unter die Augen treten, die sich seit Monaten gegen die Angriffe des „Islamischen Staates" verteidigen? Wie erklären Sie den mutigen Frauen und Männern in Kobane, dass der NATO-Partner Türkei die Grenze gegenüber den kurdischen Enklaven im Norden Syriens geschlossen hat, während die türkische Grenze gegenüber den vom „Islamischen Staat" kontrollierten Gebieten offen ist? Das möchte ich von Ihnen wissen.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie als Bundesregierung haben sich solidarisch mit Charlie Hebdo erklärt. Gestern wurde die Veröffentlichung der türkischen Version der Satirezeitung in der Türkei verboten, und sie wurde überall konfisziert. Wieder einmal wurden Journalistinnen und Journalisten in der Türkei angegriffen. Dazu dürfen wir und vor allen Dingen Sie als Bundesregierung nicht schweigen.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Zeigen Sie endlich, dass Sie nicht einverstanden sind mit der Repression und der Terrorförderung Erdogans und seiner Marionette – so wird Ministerpräsident Davutoglu in der Türkei trefflich beschrieben – in Syrien. Dieser Terror schlägt jetzt eben auch nach Europa zurück. Dies erklärte uns der libanesische Außenminister bereits im Frühjahr letzten Jahres bei einer Reise des Außenministers Steinmeier. Die Terrorförderung gegen Assad und gegen Syrien, meinte er damals, ist brandgefährlich, weil sich der Terror irgendwann gegen Europa richten wird.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Deutsche Außenpolitik darf nicht weiter auf einer Täuschung der Bevölkerung und der Partnerschaft mit autoritären Regimen beruhen. Deshalb bitte ich Sie: Kehren Sie um! Beenden Sie endlich Ihre Nibelungentreue zum Erdogan-Regime in der Türkei, und ziehen Sie die Bundeswehr dort ab!
(Beifall bei der LINKEN)
Zwischenfrage von Sevim Dagdelen zur Rede von Philipp Mißfelder (CDU):
Sevim Dagdelen (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Kollege. – Es mag sein, dass es sowohl in der Türkei als auch in Deutschland unterschiedliche Ansichten über Erdogan, seine Macht und die Strukturen gibt. Aber zu zwei Dingen möchte ich Sie hier kurz befragen.
Erstens. Was sagen Sie zu den konkreten Punkten, die ich in meiner Rede erwähnt habe, beispielsweise dazu, dass der Abdruck einiger Seiten aus der Satirezeitung Charlie Hebdo gestern verboten worden ist, die Ausgaben der entsprechenden Zeitungen konfisziert worden sind und Journalisten angegriffen worden sind? Möchten Sie dazu weiter schweigen?
Zweitens. Was denken Sie, wie man den Menschen, die in Kobane seit Monaten gegen den IS kämpfen, erklären kann, dass die IS-Kämpfer in den Krankenhäusern auf türkischem Territorium behandelt werden können, aber die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer vor der Grenze verbluten müssen, weil sie wegen des Embargos nicht ins Land dürfen? – Auf diese Fragen hätte ich gerne eine Antwort.
Als Drittes möchte ich Sie fragen, weil Ihr Kollege, Herr Brauksiepe, ohne irgendeinen Beleg behauptet hat, dass die Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei für den Patriot-Einsatz sei, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass das bislang erst ein repräsentatives Meinungsforschungsinstitut, der German Marshall Fund, untersucht hat. Dieses amerikanische Institut hat im November 2012 eine Umfrage gemacht, nach der über 57 Prozent der Menschen in der Türkei gegen den Patriot-Einsatz waren.
(Florian Hahn [CDU/CSU]: Da hat er doch gar nicht angefangen!)
Wie kommen Sie oder Ihr Kollege dann dazu, ohne irgendeinen Beleg zu behaupten, dass die Mehrheit der Bevölkerung für den Einsatz sei? Bislang gibt es keine Umfrageergebnisse in dieser Richtung.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Ich fange mit der letzten Frage an, Frau Dagdelen. Ich weiß nicht, auf welcher empirischen Grundlage die Aussage von Herrn Brauksiepe erfolgt ist. Ich kann nur sagen, dass ich in Gesprächen mit Vertretern der Türkei den Eindruck hatte, dass der Einsatz durchaus willkommen ist. Ich kenne die Umfrage nicht – das sage ich ganz offen –, verweise aber darauf, dass wir bei Mandaten für Einsätze, die wir für sinnvoll erachten, auch häufig mit Umfragewerten konfrontiert werden, die wir nicht befriedigend finden. Militärische Aktivitäten scheinen offenbar immer eine politische Führungsaufgabe zu sein, um es einmal so zu formulieren.
Zu Ihren beiden anderen Fragen. Was die Zeitschrift angeht, habe auch ich mit großem Interesse die türkischen Reaktionen verfolgt. Das finden wir natürlich nicht gut; das ist gar keine Frage. Die Meinung in Deutschland ist ganz klar, dass Satire definitiv zur freien Meinungsäußerung gehört. Ich möchte allerdings an dieser Stelle bemerken, dass ich auch großen Respekt vor den Gefühlen aller Menschen habe, die gläubig sind. Das gilt sowohl, wenn im Kölner Dom jemand Unruhe stiftet, als auch dann, wenn in der Erlöser-Kirche in Moskau Unruhe gestiftet wird oder Mohammed aus der Sicht des Gläubigen beleidigt wird. Diese religiöse Verletztheit rechtfertigt allerdings nicht, Menschen in Straflager zu sperren. Sie rechtfertigt auch nicht, Menschen in die Luft zu sprengen oder zu erschießen. Das hat die türkische Regierung aber auch nicht getan.
(Sevim Dagdelen [DIE LINKE]: Das größte Gefängnis für alle Journalisten weltweit!)
– Dass eine Partei in einem Land, das mehrheitlich sehr gläubig ist, versucht, gesellschaftliche Entwicklungen wie die Ausprägung des Islams, an der Sie sich bekanntermaßen stören – man kann in der Tat sehr intensiv diskutieren, ob die AKP auf dem richtigen Weg ist –, abzubilden, trägt sicherlich erst einmal zur Befriedung bei. Das ist gar keine Frage. Aber wir sind mit der Wahl der Mittel der Türkei nicht einverstanden. Das machen wir auch bei jeder Begegnung mit dem Botschafter deutlich.
Sie haben Kobane angesprochen. Die Situation dort zeigt, wie schwierig die Aufgabe ist. Darauf werde ich noch im Fortgang meiner Rede eingehen.
Der Einsatz ist deshalb notwendig, weil die Türkei sich innenpolitisch in einer ganz anderen Bedrohungssituation befindet als wir. In jüngster Zeit hat es wieder Selbstmordattentate gegeben. Das trägt in der Türkei innenpolitisch zu einer aufgeheizten Stimmung bei, die bei uns, wie ich glaube, mindestens genauso groß wäre, wenn wir in Berlin, Köln oder anderswo in Ballungszentren mit solchen konkreten Bedrohungssituationen konfrontiert wären. Das darf man nicht unterschätzen.