Offener Brief gegen Hetze in BAMF-Broschüre
Sehr geehrter Herr Dr. Schmidt,
womöglich sind wir nicht die Ersten, die über eine Passage in der Broschüre des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) „Das deutsche Asylverfahren – ausführlich erklärt" zutiefst irritiert und verärgert sind. Es geht um die Passage im Kapitel Flughafenverfahren (S. 10), wonach von den über 400.000 Asylsuchenden des Jahres 1992 „der weitaus größte Anteil den Zuzug in die deutschen Sozialsysteme beabsichtigt" habe. Da wir eine solche Aussage in einer offiziellen Broschüre für demagogisch und gefährlich halten, wollen wir unsere Meinung dazu in Form eines Öffentlichen Briefes darlegen.
Aus unserer Sicht ist die genannte Aussage eine nicht zu rechtfertigende und nicht zu entschuldigende sprachliche Entgleisung und muss im online-Angebot Ihres Amtes und in künftigen Neuauflagen dringend korrigiert werden. Die Antwort der Bundesregierung – namentlich von Herrn Staatssekretär Dr. Ole Schröder vom 12. November 2012 auf eine schriftliche Frage hierzu, mit der die Textpassage stupide und geradezu monoton gerechtfertigt wird, kann uns nicht zufrieden stellen – im Gegenteil. Für den Fall, dass Ihnen Frage und Antwort nicht bekannt sind, fügen wir diese dem Schreiben bei.
Zur Textpassage selbst Folgendes:
Die Formulierung, wonach die meisten Asylsuchenden im Jahr 1992 einen „Zuzug in die deutschen Sozialsysteme beabsichtigt" hätten, unterstellt eine willentliche Absicht und den innerlichen Entschluss, in Deutschland von Sozialhilfe leben zu wollen. Das aber ist a) nicht nur nicht belegbar, es ist auch b) falsch und fördert c) eine gefährliche rechtspopulistische Stimmungsmache gegen Asylsuchende. Zudem gefährdet dies d) die neutrale Stellung Ihres Amtes als unvoreingenommene und „objektive" Prüfungsinstanz!
Nachfolgend begründen wir diese Auffassung:
a) Das renommierte und mit dem diesjährigen Grimme-Preis ausgezeichnete Internet-Fachportal MiGAZIN hat die besagte Passage äußerst kritisch thematisiert, unter der Überschrift: „Auf NPD-Niveau – Bundesamt gegen Migration und Flüchtlinge". Das ist schon sehr bemerkenswert und sollte auch Ihnen zu denken geben!
Dem Artikel ist zu entnehmen, dass ein vom MiGAZIN befragter Mitarbeiter der zuständigen Abteilung im BAMF die Auskunft gegeben habe, er sei „überfragt", auf welches Datenmaterial sich oben zitierte Aussage stütze. Zahlen zu „Absichten" seien ihm nicht bekannt. Ob innere Absichten überhaupt ermittelt werden könnten, bezweifelte er.
http://www.migazin.de/2012/11/14/auf-npd-niveau-bundesamt-gegen-migration-und-fluchtlinge/
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Außer: Hier werden mit einer durch nichts belegbaren Behauptung Vorurteile geschürt und Stimmung gegen vermeintliche „Sozialschmarotzer" gemacht.
b) Warum es auch inhaltlich falsch ist, aus einer Ablehnung im Asylverfahren zu schließen, die Betroffenen seien nach Deutschland mit der Intention gekommen, hier Sozialhilfe zu beziehen, geht bereits aus der besagten Schriftlichen Frage an die Bundesregierung hervor. Leider fanden diese Argumente in der Antwort des Staatssekretärs keinerlei Berücksichtigung:
· Die Flucht vor Krieg und Bürgerkrieg führt nach § 30 Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes bekanntlich zu einer Ablehnung eines Asylantrags als „offensichtlich unbegründet". Sie werden mit uns aber hoffentlich darin übereinstimmen, dass hieraus nicht geschlussfolgert werden kann, dass Menschen aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten fliehen, um in die „deutschen Sozialsysteme" einzuwandern! Nein, sie sind vor allem aus begründeter Angst um ihr Leben und das Leben ihrer Kinder geflohen.
Wie Sie wissen, kamen sehr viele der Asylsuchenden des Jahres 1992 aus dem Bürgerkriegsgebiet des zerfallenden Jugoslawiens, insbesondere aus Bosnien-Herzegowina, aber z.B. auch aus Kroatien und Serbien (Kosovo). Jugoslawien war im Jahr 1992 das bedeutendste Herkunftsland von Asylsuchenden. Ihnen zu unterstellen, sie hätten im Asylverfahren keinen „Schutzbedarf" geltend machen können und seien deshalb aus „asylfremden, insbesondere wirtschaftlichen Gründen" ausgereist, wie es Staatssekretär Dr. Schröder in seiner Antwort auf die Schriftliche Frage indirekt tut, ist eine Unverschämtheit.
Dasselbe gilt für seine Unterstellung, die Menschen seien aus (vermeintlich) „sicheren Drittstaaten" dann aus „asylfremden, insbesondere wirtschaftlichen Gründen" in die Bundesrepublik Deutschland weitergeflohen. Viele Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sind vor allem deshalb nach Deutschland gekommen, weil sie entweder selbst als so genannte Gastarbeiter in früheren Zeiten hier gelebt und gearbeitet hatten und deutsch sprachen, oder weil sie zumindest Kontakte zu hier lebenden Familienangehörigen hatten. Auch über die vermeintliche „Sicherheit" etwa Polens im Jahr 1992 ließe sich angesichts der bekannten Rechtsprechung des EGMR und des EuGH zur Unzulässigkeit solcher unwiderleglicher Annahmen – selbst in Bezug auf EU-Mitgliedstaaten – trefflich streiten.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit ihrer „Anerkennungspolitik" zum Zerfall bzw. zur Zerschlagung Jugoslawiens maßgeblich beigetragen. Sich vor den Folgen der eigenen Außen- und Entwicklungspolitik abschotten zu wollen, stellt eine nur allzu bekannte Kontinuität deutscher Politik dar.
Weiterhin gab es 1992 eine starke Asylsuche insbesondere von Roma aus Rumänien. Es verbietet sich aber – selbst angesichts hoher Ablehnungsquoten –, diesen einen gewollten „Zuzug in die Sozialsysteme" zu unterstellen, denn der Systemumbruch in Rumänien war insbesondere für die Roma mit einer massiven Ausgrenzung und Diskriminierung, bis hin zu tätlichen und tödlichen Pogromen im ganzen Land verbunden.
· Sie werden einräumen müssen, dass im Jahr 1992 selbst solche Schutzbedürftigen als „abgelehnte Asylbewerber" statistisch erfasst wurden, die als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt (!) worden waren (denn in der Statistik zählten nur Anerkennungen nach dem Grundgesetz). Gleiches gilt für Menschen mit subsidiären Schutzansprüchen, die damals noch nicht so genannt wurden, d.h. für Menschen, bei denen zwar keine politische Verfolgung, aber rechtliche oder humanitäre Abschiebungshindernisse festgestellt wurden. Wie viele Personen diese verfälschende statistische Wahrnehmung betraf, ist im Nachhinein nicht mehr feststellbar, aber der Bezug von Sozialhilfeleistungen war für all diese Menschen jedenfalls nicht das Motiv zur Flucht!
· Auch die nicht-staatliche Verfolgung wurde in der Bundesrepublik Deutschland infolge einer sehr restriktiven und international weitgehend isolierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und entgegen der Proteste etwa des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen über Jahre und Jahrzehnte hinweg als „nicht asylrelevant" abgetan. Der Gesetzgeber änderte diese unzulässige Einschränkung des Schutzumfangs der GFK bekanntlich mit Wirkung des Jahres 2005. Wenn bei nicht-staatlicher Verfolgung im Jahr 1992 grundsätzlich „kein Schutzbedarf" festgestellt wurde, so ist also auch dies nicht mit „asylfremden, insbesondere wirtschaftlichen Gründen" zu erklären, wie es der Staatssekretär in seiner Antwort auf die Schriftliche Frage tut, sondern mit einer unzulässig verengten Anerkennungspraxis in Deutschland! Etwa die Hälfte aller derzeitigen Asylanerkennungen des BAMF beruhen auf nicht-staatlicher Verfolgung, im Jahr 1992 wären diese Menschen alle abgelehnt worden, ohne dass dies die Annahme rechtfertigen könnte, sie seien aus „wirtschaftlichen Gründen" nach Deutschland gekommen oder gar, um hier Sozialhilfe zu beziehen! Auch eine geschlechtsspezifische Verfolgung wurde in den 90er Jahren weitgehend ignoriert – dies steht im engen Zusammenhang zum eben Ausgeführten.
c) Uns ist bekannt, dass die in unseren Augen verleumderische Redewendung vom „Zuzug in die Sozialsysteme" in den letzten Jahren sogar Einzug in amtliche Gesetzesbegründungen gefunden hat (z.B. beim ersten EU-Richtlinienumsetzungsgesetz, BT-Drs. 16/5065, Begründung zu § 28 und § 104a AufenthG). Gleichwohl halten wir dies nicht nur für inhaltlich falsch, sondern angesichts der verfestigten und wissenschaftlich immer wieder belegten rassistischen Einstellungen in Teilen der Bevölkerung für fatal und verantwortungslos. Die Redewendung bedient in gefährlicher Weise Ressentiments und nährt das Vorurteil, Asylsuchende hätten keine berechtigten Gründe zur Flucht, sondern seien überwiegend darauf aus, „unsere" Sozialsysteme zu missbrauchen (Bild des „Schmarotzers"). Aber für uns steht außer Zweifel, dass sich die Menschen, die nach Deutschland fliehen, unabhängig von ihren Gründen zur Flucht in aller Regel von eigener Arbeit selbst ernähren und leben wollen. Dass sie zumeist zur Untätigkeit gezwungen und vom „Sozialsystem" abhängig sind, liegt vor allem an den arbeitsrechtlichen Beschränkungen, die der deutsche Gesetzgeber den Asylsuchenden auferlegt hat (Arbeitsverbot und Vorrangprüfung) – nicht aber an ihrer vermeintlichen Absicht, hier von Sozialleistungen leben zu wollen.
d) Um bereits den Anschein der Voreingenommenheit Ihres Amtes zu vermeiden, sollte es auf solche politisch umstrittenen Kampfbegriffe wie „Zuzug in die Sozialsysteme" verzichten! Asylsuchende sollen sich vertrauensvoll an ihr Amt wenden und sich eine objektive Prüfung ihres Anliegens erwarten können. Dieses Vertrauen aber wird gestört, wenn in offiziellen Publikationen Ihres Amtes den Betroffenen in ihrer Mehrheit sozial-missbräuchliche Motive unterstellt werden.
Sehr geehrter Herr Dr. Schmidt,
noch kennen wir Ihre Haltung und Bewertung zu all diese Fragen nicht. Deshalb können wir hoffen, dass Sie sich die Ausführungen Ihres Vorgängers im Amt Albert Schmid zu Eigen machen. Wie die Katholische Nachrichtenagentur am 18. November 2012 zur Herbstvollversammlung des Landeskomitees der Katholiken in Bayern meldete, wandte sich dessen jetziger Vorsitzender Albert Schmid nachdrücklich gegen die „diskriminierende Verwendung" des Begriffs „Wirtschaftsflüchtling". Es könne in der Flüchtlingspolitik nicht nur um den Schutz vor politischer Verfolgung gehen, die deutsche Gesellschaft müsse auch Antworten auf das Problem einer Armutswanderung geben, erklärte er. Eine Armut, die wie wir finden, im Übrigen nicht zuletzt Deutschland mit seiner Außen(handels)politik mitverursacht. Dies gelte auch im Umgang mit Sinti und Roma aus Mazedonien und Serbien, insbesondere angesichts dessen, „was diesem Volk von deutschem Boden aus angetan worden sei", heißt es weiter in der Meldung.
Lassen Sie uns abschließend noch eine sachliche Korrektur vornehmen. In der maßgeblichen Passage der genannten Broschüre heißt es, im Jahr 1992 habe es „über 400.000 Asylbewerber" gegeben. Das ist falsch. Im Jahr 1992 kamen nicht über 400.000 Asylsuchende nach Deutschland, sondern es wurden knapp 440.000 Asylanträge gestellt. Da aber bis 1995 Erst- und Zweitanträge nicht gesondert statistisch erfasst wurden und es im Jahr 1992 auch noch viele Mehrfachanträge identischer Personen unter geänderten Namen gab, kann aufgrund vorliegender Daten geschätzt werden, dass die knapp 440.000 Anträge „nur" etwa 272.000 real neu Asylsuchenden im Jahr 1992 entsprachen (vgl. bereits Bundestagsdrucksache 16/7687, Fragen 14 und 15). Das müsste aber auch Ihnen und Ihrer Behörde bekannt sein.
In der Erwartung Ihrer Antwort verbleiben wir mit freundlichen Grüßen
Sevim Dagdelen, MdB, Sprecherin für Migration und Integration
MdB Ulla Jelpke, MdB, Sprecherin für Innenpolitik