„Ohne Berlin und Brüssel wäre Erdogan am Ende“
Von Dieter Klink
BT: Frau Dagdelen, wie bewerten Sie das Urteil gegen Deniz Yücel?
Sevim Dagdelen: Das Urteil gegen Yücel, aber auch die Urteile zu Peter Steudtner und anderen Menschenrechtsaktivisten zeigen in ihrer Widersprüchlichkeit, dass die Türkei kein Rechtsstaat ist. Es handelt sich um eine Willkür-Justiz, es sind politische Urteile. Seit dem Gegenputsch Erdogans 2016 wurden Tausende Richter und Staatsanwälte ausgewechselt und durch Erdogan-treue Gefolgsleute ersetzt. Es gibt keine unabhängige Justiz in der Türkei mehr, die Gewalten sind verschränkt.
BT: Was sehen Sie in dem Urteil gegen Yücel?
Dagdelen: Das Urteil ist eine Warnung an alle, die über den Krieg Erdogans gegen die Kurden berichten oder über die Komplizenschaft des Regimes mit terroristischen Islamisten oder sich dem entgegenstellen.
BT: Zeigen die Proteste der türkischen Anwälte der vergangenen Wochen, dass die Justiz noch lebt?
Dagdelen: Das Parlament kontrolliert schon den Rat der Richter und Staatsanwälte, und jetzt sollen auch noch die bisher unabhängigen Anwaltskammern gleichgeschaltet werden. Sie sind die letzte verbliebene unabhängige Instanz der türkischen Justiz und ein Störfaktor beim Umbau der Türkei in ein islamistisches Präsidialsystem. Erdogan geht gezielt und strategisch vor nach dem Vorbild des italienischen Faschismus der 20er Jahre. Er schaltet eine Institution nach der anderen gleich. Angefangen hat das mit dem Verfassungsreferendum vor zehn Jahren, das von der Bundesregierung und der EU-Kommission damals als Demokratisierung bejubelt wurde. Erdogan sicherte sich so den Zugriff auf die Justiz.
BT: Erdogan verliert in Umfragen und bei den jüngsten Kommunalwahlen an Rückhalt. Wird ihn das schwächen oder wird er die Daumenschrauben weiter anziehen?
Dagdelen: Erdogan sitzt noch immer fest im Sattel. Durch die Koalition mit den Faschisten der MHP hat er mit seiner AKP immer noch die Mehrheit. Knapp die Hälfte der Bevölkerung in der Türkei steht zwar nicht hinter ihm, aber er hat großen Rückhalt aus Berlin und Brüssel. Ohne diesen Rückhalt wäre er am Ende. Die türkische Lira ist unter Druck, und ohne die Wirtschafts- und Finanzhilfen aus Berlin und Brüssel könnte Erdogan sein auf Pump aufgebautes Wirtschaftsmodell nicht weiterführen. Hinzu kommt die Unterstützung seiner aggressiven Außenpolitik. Ankara lässt syrische Söldner in von Deutschland mitproduzierten Militär-Airbussen nach Libyen fliegen. Dann heißt es verharmlosend, Deutschland liefere nur Rüstung für den maritimen Bereich. Das bedeutet aber, man unterstützt die aggressive Expansionspolitik Erdogans im östlichen Mittelmeer auch gegen EU-Mitgliedsstaaten wie Zypern und Griechenland. Dort sucht die Türkei nach Erdgasvorräten und greift damit EU-Hoheitsrechte an.
BT: Die Jugend wendet sich von Erdogan ab, heißt es. Ist das ein Hoffnungszeichen?
Dagdelen: Sicher, aber ich würde das Gewaltpotenzial der islamistischen Moslembrüder in der Türkei und ihren bedingungslosen Willen zur Macht nicht unterschätzen. Klar ist, irgendwann wird Erdogans Zeit ablaufen, aber die Frage ist, wie viel bleibender Schaden bis dahin angerichtet ist; politisch, gesellschaftlich und kulturell.
BT: Kuscht die EU, weil sie Erdogan braucht?
Dagdelen: Ja, die EU ist zu duckmäuserisch. Daher ist es auch nicht glaubhaft, wenn Außenminister Heiko Maas das Urteil gegen Yücel kritisiert. Die Türkei hat in den letzten Jahren viermal einen völkerrechtswidrigen Krieg in Syrien gestartet, sie handelt völkerrechtswidrig im Nordirak. Aber weder die Bundesregierung noch die EU ziehen daraus Konsequenzen, im Gegenteil, die Türkei wird weiter massiv mit Waffen und Milliardenhilfen für den Flüchtlingsdeal unterstützt. Und Maas stellt jetzt sogar noch in Aussicht, die Reisewarnung für die Türkei aufzuheben. Allein aufgrund der politisch motivierten Gerichtsverfahren, der Verfolgung von Deutschen in der Türkei hätte eine Reisewarnung schon längst ausgesprochen werden müssen.
BT: Nicht erst wegen Corona?
Dagdelen: Inzwischen ist die Türkei sowohl epidemiologisch als auch politisch ein Risikogebiet, deshalb ist diese Reisewarnung zwingend. Eine Aufhebung der Reisewarnung ist nicht vertretbar.
BT: Müssten nicht ehrlicherweise die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei konsequenterweise beendet werden?
Dagdelen: Absolut. Man hätte die Beitrittsverhandlungen schon längst beenden müssen. Voraussetzung für die Fortsetzung der Verhandlungen sind Fortschritte in Demokratie, Menschenrechten, Freiheitsrechten. Niemand kann behaupten, dass es in der Türkei in den vergangenen Jahren hier Fortschritte gegeben hätte. Im Gegenteil. Und jetzt wird auch noch über die Erweiterung der Zollunion mit der Türkei verhandelt. Die Zollunion muss auf den Prüfstand, weil sie mit Erdogan keinen Sinn macht.
BT: Sie leiden mit der türkischen Bevölkerung. Was gibt Ihnen Hoffnung?
Dagdelen: Hoffnung geben mir die vielen Menschen, die sich gegen das Regime auflehnen, die nicht akzeptieren wollen, dass die Türkei unter dem Moslembruder Erdogan in einen islamistischen Unterdrückungsstaat umgewandelt wird. Aber deshalb ist es umso wichtiger, dass sich auch Berlin und Brüssel an die Seite der Demokraten in der Türkei stellen, statt den Autokraten weiter mit Waffen und Geld zu unterstützen.
Quelle: Badisches Tagblatt