Popkulturpolitik #5: Global denken, lokal handeln

Sevim Dagdelen (MdB), Marcus Staiger (Journalist) und Pierre Baigorry (Musiker); v.l.n.r.
Im „Heimathafen“ diskutierte Sevim Dagdelen mit Seed-Sänger Pierre Baigorry über Willkommenskultur und Fluchtursachen
Was bleibt von der vielbeschworenen, auch von Regierung, Wirtschaft und Springer-Presse propagierten „Willkommenskultur“? Was ist aus dem Engagement vieler Kulturschaffender geworden, die sich seit dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise im vergangenen Jahr mit den in Deutschland gestrandeten Migrantinnen und Migranten solidarisiert haben? Inwieweit können diejenigen, die im Rampenlicht stehen, ihre Vorbildfunktion nutzen, um Menschen in Not zu helfen und sich dabei auch noch gegen Rassismus einsetzen – und wie lassen sich die Gründe für die massenhafte globale Migration thematisieren? Welche Möglichkeiten verbleiben überhaupt, um – jenseits individueller Einzelaktionen – dringend notwendige gesellschaftsverändernde Prozesse zu unterstützen? Darüber diskutierten im „Heimathafen“ in Berlin-Neukölln der Musiker Pierre Baigorry, vielen besser bekannt unter seinem Künstlernamen Peter Fox, DJ D.R.E.E.A., der Jenaer Soziologe Dennis Eversberg und Sevim Dagdelen, Beauftragte für Integration und Migration der Fraktion Die Linke im Bundestag.
Es ist gar nicht so einfach, Fluchtursachen wie westliche Militärinterventionen oder die Folgen der kapitalistischen Weltwirtschaft in den großen Medien zu einem großen Thema zu machen. Diese Erfahrung hat Pierre Baigorry gerade persönlich machen müssen. In einem Interview hat er sich ausführlich über die ungerechten Wirtschaftsbeziehungen, Umweltzerstörung und Kriegsleid eingelassen, in einem Nebensatz auf Nachfrage bestätigt, dass er auch persönlich und konkret hilft – und schon war alle Politik raus und der Scheinwerfer auf den Promi gerichtet: „Musiker Peter Fox holt syrische Familie zu sich“ (n-tv), „Bei ihm wohnt jetzt eine Flüchtlingsfamilie (Mopo) oder „Tolles Engagement: Peter Fox nimmt Flüchtlingsfamilie auf“(promiflash.de). „Diese Schlagzeilen wollte ich nicht, sie sind mir peinlich“, bekannte Pierre Baigorry in der Runde.
Warum schaffe es Die Linke nicht, die größeren Zusammenhänge an den Mann und an die Frau zu bringen, wollte der Seed-Sänger wissen? Zum Beispiel, weil wichtige Diskussionen wie die im „Heimathafen“ nicht von ARD und ZDF übertragen und einem Millionenpublikum nahegebracht werden, konstatierte Sevim Dagdelen. Es habe zwar in den vergangenen Monaten unzählige Talksendungen über die sogenannte Flüchtlingskrise gegeben, doch wenn einmal die Sprache auf Fluchtursachen kam, sei das Thema abgewürgt worden.
DJ DREEA, vor 25 Jahren als Kind aus Rumänien nach Deutschland gekommen, kann mit der vielgelobten „Willkommenskultur“ nichts anfangen. Es sei im vergangenen Jahr doch rasch klar gewesen, wer zu den „Guten“ und wer zu den „Schlechten“ gehöre: Syrer und Iraker sind willkommen, Flüchtlinge aus Afrika oder Sinti und Roma vom Balkan nicht. Die Musikerin spricht denn auch von „Willkommensrassismus“.
Letzterer werde staatlich gefördert, erinnerte Sevim Dagdelen. Während Kanzlerin Merkel in den großen Medien als Helferin in der Not gefeiert wurde, seien die ersten Verschärfungen im Asylrecht durch den Bundestag gepeitscht worden: Mit den Asylpaketen I und II im Oktober 2015 und Februar 2016 haben die politisch Verantwortlichen konsequent auf die Politik der Abschreckung gesetzt. Dazu zählen unter anderem pauschale Leistungskürzungen, verlängerte Lagerunterbringung, Sachleistungsversorgung, Arbeitsverbote und Residenzpflicht, verschärfte Aufenthalts- und Wiedereinreiseverbote, Asylschnellverfahren und leichtere Abschiebung von Kranken. Schließlich sind die sechs Westbalkan-Staaten Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien und Kosovo – wo die Bundeswehr für Sicherheit sorgen soll – als „sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft worden, um Menschen dorthin rasch abschieben zu können. Im Mai sind die nordafrikanischen Länder Marokko, Tunesien und Algerien im Bundestag dazugekommen. Die Entscheidung im Bundesrat steht noch aus. Geht es nach Bundesinnenminister Thomas de Maizière, ist selbst das Bürgerkriegsland Libyen „sicher“. Gleichzeitig weitet Vizekanzler Sigmar Gabriel die deutschen Rüstungsexporte immer mehr aus. „Mit den Waffen werden Menschen zu Flüchtlingen gemacht“, so Sevim Dagdelen.
Die große Zahl der nach Europa und Deutschland kommenden Flüchtlinge unterstreiche, dass die „imperiale Lebensweise“ an ihre Grenzen stoße, warf Dennis Eversberg vom „Kolleg Postwachstumsgesellschaften“ an der Universität Jena ein. Es liege auf der Hand, dass das Lebensmodell der Gesellschaften Europas und Nordamerikas ebenso wie das der asiatischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Ober- und Mittelklassen nicht auf alle sieben Milliarden Menschen übertragen werden könne. Ein Ausstieg aus dem Verbrauch fossiler Energien und der grenzenlosen Ausbeutung aller verfügbaren Rohstoffe stehe an. Es gelte die Chance zur Demokratisierung und Regionalisierung der Produktion und des Konsums zu ergreifen. Die anhaltende Migrationsbewegung nach Europa führe die Notwendigkeit tagtäglich vor Augen.
Die Umverteilung in Deutschland selbst wäre doch schon einmal ein guter Anfang, nahm Sevim Dagdelen das Plädoyer für einen Systemwechsel auf. Die Integration der Flüchtlinge könne nicht von denen finanziert werden, denen am Ende des Monats ohnehin schon das Geld fehle. Die Reichen und Vermögenden müssen ran, die Einführung einer Millionärssteuer wäre eine überfällige Maßnahme, so die Linke-Politikerin.