Rassistische Einteilung nach ökonomischer Nützlichkeit

UZ: Frau Merkel lässt sich keine "Ultimaten" stellen. Und viele Zeitungen unterstellen den boykottierenden Organisationen Borniertheit. War es politisch richtig, dem Integrationsgipfel fernzubleiben?

Sevim Dagdelen: Das ist letztlich eine Entscheidung, die die entsprechenden Organisationen jeweils für sich selbst treffen müssen. Für mich ist es allerdings mehr als verständlich, wenn sich Migrant(inn)enorganisationen nicht zu reinen Statisten machen lassen. Ihr Protest gegen die massiven Verschärfungen des Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrechts war bei der Bundesregierung und der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration auf taube Ohren gestoßen. Auch Sachverständige und Verbände hatten den Gesetzentwurf wiederholt als verfassungsrechtlich bedenklich und integrationsfeindlich kritisiert. Ohne Erfolg.

Dass Fragen wie die rechtliche Gleichstellung, die gleichberechtigte soziale Partizipation von Migrantinnen und Migranten, die Situation von Flüchtlingen mit Duldungen und Menschen ohne Aufenthaltsstatus und das Aufenthaltsrecht insgesamt sowie des staatlich sanktionierten Rassismus im Rahmen der Einteilung von Menschen nach ihrer "Nützlichkeit" bei der Erstellung des Integrationsplans gar nicht erst diskutiert werden durften, verdeutlicht den Show-Charakter des Gipfels.

Was bleibt ist die Erkenntnis, dass es beim so genannten Integrationsgipfel nicht um tatsächliche Teilhabe und Mitbestimmung ging. Kennzeichnend ist eher das Motto: Dabei sein ist alles. Migrantinnen und Migranten und deren Organisationen sollen als Feigenblatt für eine integrationsfeindliche Politik dienen. Der Boykott durch Verbände türkischer Migrantinnen und Migranten ist dementsprechend nur konsequent.

UZ: Wie empfindet es ein(e) hier lebende(r) Türke/in, dass sein(e) Partner/in beim Nachzug eher Deutschkenntnisse nachweisen muss als z. B. US-Amerikaner oder Japaner?

Sevim Dagdelen: Nun, sie fühlen sich bestätigt, dass es letztlich darum geht, Menschen muslimischen Glaubens in pauschalisierender und kulturalisierender Weise zu diskriminieren. Es wird der Eindruck vermittelt, dass vor allem sie die Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit nicht oder nur unzureichend verinnerlicht hätten. Ihnen werden durch Pauschalisierungen und Verknüpfung mit Themen wie Terrorismus, "Ehrenmord", Unterdrückung von Frauen usw. per se autoritäre, sexistische und fundamentalistische Grundhaltungen und Verhaltensweisen unterstellt. Diese kollektiven Zuschreibungen befördern tradierte rassistische Stereotype. Ethnisierende und kulturalisierende Zuschreibungen zementieren eine Wahrnehmung, die die reale Schlechterstellung als Folge eines persönlichen Unvermögens erscheinen lassen soll. Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund werden etwa nur im Kontext von Debatten um das (Nicht-)Tragen eines Kopftuchs, "Ehrenmorde" und Zwangsverheiratungen wahrgenommen. All diese Stigmatisierungen werden für pauschale Aburteilungen als "integrationsunwillig" bzw. "integrationsunfähig" benutzt. Vielen ist sehr wohl auch der Zusammenhang zwischen der Frage der "Integrations(un)willigkeit" und der "Nützlichkeit" klar, die wiederum eine Politik der effizienten und reibungslosen Verwertung "nützlicher" Menschen und die Ausgrenzung der "anderen" legitimieren soll.

UZ: Integration statt multikultureller Gesellschaft. Verlangt das vom "Ausländer" nicht Aufgabe der eigenen kulturellen Identität? Verstärkt das nicht das Beharren darauf?

Sevim Dagdelen: Nein, jedenfalls nicht für DIE LINKE. Wir haben in unserem gerade erst beschlossenen Integrationskonzept der Bundestagsfraktion festgehalten, dass auch der Grundsatz der Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit insbesondere die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit sowie das Recht auf Bildung und auf Teilnahme und Teilhabe am kulturellen Leben berücksichtigt werden müssen.

Die vielschichtige gesellschaftliche Realität erfordert vom Einzelnen, mit Heterogenität umgehen zu können. Dazu bedarf es der Anerkennung der soziokulturellen Heterogenität als konstitutivem Bestandteil einer Gesellschaft im Zeichen der Globalisierung auf der Grundlage eines republikanischen Staatsverständnisses. Das bedeutet gleichzeitig, kulturelle Differenzen nicht im Sinne einer bewussten bzw. ungewollten Ethnisierung sozialer Beziehungen zu funktionalisieren. Im Vordergrund steht, dass alle Menschen, die in Deutschland leben, Männer wie Frauen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion usw. gleiche Rechte haben und ihr persönliches Leben frei und selbstständig gestalten sollen. Dies gilt, solange sie nicht in die Rechte anderer eingreifen. Die universellen Grund- und Menschenrechte haben für alle zu gelten und stellen die verbindliche Grundlage für das Zusammenleben in der Bundesrepublik dar.

Mit Blick auf die Gleichbehandlung der Religionen setzt sich DIE LINKE. für eine klare Trennung von Staat und Religion ein. Aus der Freiheit der Kultur im republikanischen Verfassungsstaat folgt, dass auch Religion keine verbindlich vorgegebene kollektive Orientierungsgröße sein kann, will dieser überkonfessionell begründet sein. Nur so bestehen Möglichkeiten autonomer Entscheidungen über die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der jeweiligen kulturellen (religiösen) Lebensformen. Ein Eingriff in die Privatsphäre ist für DIE LINKE. nicht hinnehmbar. Wird das private religiöse Bekenntnis unter dem Vorwand der Integration und der Pluralität in den Mittelpunkt öffentlicher Bezüge gerückt, wird das Grundrecht auf freie Entscheidung der Religion und der Religionsausübung stark beeinflusst. DIE LINKE lehnt deshalb die Versuche kollektiver Identitätsstiftung im Sinne einer "christlich-abendländischen Kulturgemeinschaft" ab. Diese Versuche, das religiöse Bekenntnis seiner grundlegendsten Eigenschaft zu berauben, nämlich eine persönliche und freie Entscheidung zu sein, dienen lediglich als Instrument der Diskriminierung nicht-christlicher Gläubiger.

UZ: Sitzen wir nicht hinsichtlich der immer stärkeren Propagierung der Leitkultur und der damit verbundenen Stigmatisierung anderer Lebensweisen auf einem sozialen Pulverfass?

Sevim Dagdelen: Ich denke nicht, dass wir deswegen auf einem sozialen Pulverfass sitzen. Die Debatte um die Leitkultur ist doch letztlich nur dazu da, das eigentliche Problem zu verdecken. Je größer die Verteilungsungerechtigkeit global, aber auch in einer Gesellschaft ist, desto mehr wird versucht, den Ausschluss in Bezug auf bestimmte Ressourcen zu legitimieren. Ethnisierung/Kulturalisierung ist dafür ein geeigneter Exklusionsmechanismus, der Minderheiten konstruiert, diese negativ (etwa als "Sozialschmarotzer", "Asylbetrüger") etikettiert und eigene Privilegien zementiert. Jeder Kulturalisierungsprozess hat zwei Seiten: eine Stigmatisierung der "Fremden" und Konstituierung des "Eigenen" mit weiter reichenden politischen und ökonomischen Zielen. Die rechtliche und soziale Diskriminierung setzt an dem Gegensatz von "Eigenkultur" und "Fremdkultur" an. Die strukturellen und institutionellen Ursachen der sozialen Lage, nicht nur von Menschen mit Migrationshintergrund, werden von den eigentlichen Ursachen abgelenkt. Soziale und ökonomische Konflikte werden ethnisiert bzw. kulturalisiert. Anders gesagt, der Klassenkampf wird umgedeutet in einen "Kulturkampf" bzw. in seiner radikalisierten Form bei den Nazis zum "Rassenkampf", wie er sich in deren Konzept des Ethnopluralismus wiederfindet. Insofern haben wir es beim Thema Leitkultur mit dem "ideologischen Kitt" zu tun, um rassistische und sozialdarwinistische Strukturen des Kapitalismus sowie autoritäre Tendenzen innerhalb der Gesellschaft zu legitimieren.

UZ: Die soziale Situation "ausländischer" Jugendlicher wird immer prekärer. Was leistet der Integrationsgipfel hier zur Abhilfe?

Sevim Dagdelen: Der ungleiche Zugang zwischen Schülerinnen und Schülern mit bzw. ohne Migrationshintergrund zu Ausbildungen und Erwerbstätigkeit lässt sich nicht mit den Schulleistungen erklären. Denn je höher der Schulabschluss, desto mehr geht die Schere zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund auseinander. Davon einmal abgesehen, dass die Situation Jugendlicher generell zunehmend prekärer wird, trifft dies also Jugendliche mit Migrationshintergrund wegen struktureller Diskriminierungen besonders.

In den Arbeitsgruppen, die zum Nationalen Integrationsplan gebildet wurden, waren zahlreiche Fachleute beteiligt, die sich seit langem sachlich und kompetent mit Integrationsfragen beschäftigt haben. Der Nationale Integrationsplan ist völlig unzureichend, um die Voraussetzungen für eine gleichberechtigte politische, soziale und gesellschaftliche Partizipation aller im Land lebenden Menschen zu schaffen. Nicht nur, dass die jüngsten Gesetzesänderungen im eklatanten Widerspruch zu den Zielen des Integrationsplans stehen, die in ihm enthaltenen eher unverbindlichen Selbstverpflichtungen können nicht die Fehler in der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik ausgleichen, unter denen besonders Migrantinnen und Migranten leiden. Sprach- und Integrationskurse helfen nicht gegen Hartz-Gesetze, Arbeitsverbote und soziale Benachteiligung im Bildungssystem.

UZ: Ist das neue Integrationsgesetz tatsächlich verfassungswidrig?

Sevim Dagdelen: Zumindest sehen das viele Expertinnen und Experten so. Zahlreiche offenkundige EU-Rechts- und Grundrechtsverstöße im Gesetzentwurf sind ignoriert worden. Nicht einmal zwingende Mindestnormen der EU-Richtlinien wie etwa zum subsidiären Schutz für Kriegsflüchtlinge, zur Beachtung des Kindeswohls und zur Sicherstellung der Behandlung von besonders Schutzbedürftigen werden umgesetzt. Unter anderem heißt das, dass der Zugang zum Asylverfahren aufgrund bloßer Verdachtsmomente verweigert werden soll. Dies ist nicht nur rechtsstaatlich fragwürdig, sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich – es geht hier immerhin um einen Eingriff in ein Grundrecht. Auch das Festhalten im Flughafentransit bis 30 Tage, ohne dass ein Richter diese Ingewahrsamnahme angeordnet hat, stellt eine Verletzung des Richtervorbehalts dar und ist deswegen verfassungswidrig. Bei Zweifeln an der Vollendung des 14. Lebensjahres ist es nun erlaubt, zur Altersfeststellung die Handwurzelknochen zu röntgen. Der körperliche Eingriff ist unverhältnismäßig, zumal die wissenschaftliche Beweiskraft solcher Methoden nicht erwiesen ist. Die geplante Änderung ist insgesamt als verfassungswidrig einzustufen und steht dem Kindeswohl entgegen. Aber auch bezogen auf den Nachweis von Sprachkenntnissen nachziehender Ehegatten vor der Einreise wird die Verfassungskonformität bezweifelt. Damit wird das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt.

UZ: Was tun? Das Integrationsgesetz bekämpfen oder die sinnvollen Maßnahmen unterstützen?

Sevim Dagdelen: Welche sinnvollen Maßnahmen? Die Gesetzesänderung folgt der rassistischen Einteilung und der damit verbundenen Abwertung von Menschen nach ihrer ökonomischen Nützlichkeit. Einerseits geht es um Flüchtlingsabwehr und die Auslese von Fachkräften und Hochqualifizierten für den "globalen Standortwettbewerb". Mit tödlichen Folgen: Nach Schätzungen sind über 10 000 Menschen im vergangen Jahr bei dem Versuch gestorben, nach Europa zu gelangen. Der Verein "Antirassistische Initiative" in Berlin hat seit 1993 Fälle von Gewalt gegenüber Flüchtlingen in der Bundesrepublik erfasst. Danach starben 170 Flüchtlinge auf dem Wege in die Bundesrepublik oder an den Grenzen, 470 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen, 138 Flüchtlinge töteten sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon 50 Menschen in Abschiebehaft. Andererseits geht es um einschneidende Sanktionen im Rahmen einer sozialpolitischen "Selektion". Integration reduziert das Zuwanderungsgesetz im Wesentlichen auf das Beherrschen der deutschen Sprache. Aus der Praxis wissen wir, dass Kenntnisse der deutschen Sprache zwar wichtig aber nicht ausreichend sind für eine gelingende Integration. Sprache wird so betont, damit sie als Ausgrenzungskriterium instrumentalisiert werden kann. Integrationskurse werden unter Sanktionsandrohung nicht in erster Linie als Angebot zugunsten der MigrantInnen betrachtet. Vielmehr sollen diese Kurse und die damit verknüpften Prüfungen, zumal angesichts der Raten erfolgreichen Bestehens, offenbar als Selektionsinstrument zur Identifikation sog. Integrationsverweigerer dienen.

UZ: Was muss wirklich geschehen, um das Zusammenleben in der Bundesrepublik erträglicher gestalten?

Sevim Dagdelen: Wer Migrantinnen und Migranten Jahrzehnte demokratische Mitbestimmungsrechte vorenthält und verhindert, dass sie sich an der Bildung eines demokratischen Mehrheitswillens beteiligen, blockiert damit auch die Integration dieser Menschen. Die Bundestagsfraktion DIE LINKE. hat ein Integrationskonzept erarbeitet, das einen alternativen Ansatz zur bestehenden repressiven und selektiven Politik formuliert und sich an entscheidenden Punkten von den Integrationspolitischen Vorstellungen anderer Parteien unterscheidet: Für uns ist der Mensch das Maß aller Dinge und nicht seine Nützlichkeit; Sprache ist eine wesentliche, aber keine ausreichende Voraussetzung für gleichberechtigte Partizipation und Integration. Ihre Beherrschung kann und sollte nicht durch Sanktionsandrohungen erzwungen werden – wir lehnen Sanktionen deswegen ab.

Für DIE LINKE. ist das Ziel der Integrationspolitik, für alle im Land lebenden Menschen die Voraussetzung einer gleichberechtigten politischen, sozialen und gesellschaftlichen Partizipation zu schaffen. Wir sehen neben der rechtlichen Gleichstellung und politischen Partizipation von Migrantinnen und Migranten, die soziale Partizipation, die gleiche Teilhabe an Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit als die zentralen Bereiche der Integrationspolitik an. Außerdem muss Integrationspolitik auch Flüchtlinge und Menschen ohne Aufenthaltsstatus einschließen – viele von ihnen leben seit Jahren in der Bundesrepublik.

DIE LINKE. will mit ihrem Konzept den Aspekt des notwendig Gemeinsamen stärker akzentuieren. Damit zielt sie auf ein vielmaschiges und inklusives, nicht auf ein separierendes und exklusives Verständnis von Integration. Was jeder Mensch mit dem anderen Menschen gemeinsam hat, jenseits aller Unterschiede und Differenzierungen, ist, dass ihm politische und soziale Grundrechte zustehen. Von dieser Perspektive notwendiger Gemeinsamkeit ist die Politik der Fraktion DIE LINKE. darauf ausgerichtet, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass alle Bevölkerungsteile diese Grundrechte besitzen und auch wahrnehmen können.