Stalingrad: Neues Vergessen

Mit zahlreichen Gedenkfeiern erinnert Russland heute an den Sieg der Roten Armee und das Ende der brutalen Schlacht um Stalingrad vor 75 Jahren. Die totale Niederlage der Sechsten Armee der Wehrmacht in der Stadt an der Wolga am 2. Februar 1943 wurde zur Wende im Zweiten Weltkrieg. Auf dem Mamajew-Hügel erinnert die gigantische Figur der »Mutter Heimat« an diesen großen historischen Erfolg der Roten Armee. Zu Recht. Der Sieg in Stalingrad war ein entscheidender Schritt zur Befreiung der europäischen Völker von der Nazidiktatur. Er spendete neue Hoffnung im Kampf gegen den Faschismus und hat die Weltgeschichte zum Positiven verändert. Es ist unwürdig und beschämend, dass die Bundesregierung daran mit keiner Silbe erinnern will.

Mit keiner einzigen Veranstaltung im Vorfeld und am heutigen Jahrestag gedenkt die Bundesregierung dieses historischen Datums, weder in den Auslandsvertretungen in Russland noch in Deutschland selbst. Man habe »grundsätzlich Kenntnis von Gedenkfeierlichkeiten in Wolgograd«, plane selbst aber nichts, so die lapidare Antwort der Bundesregierung auf meine Nachfrage. Keine Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), kein Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) und auch kein Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) haben es für wert befunden, heute nach Wolgograd zu fahren. Die Linke ist die einzige Fraktion des Bundestages, die mit einer Delegation an der Militärparade und am abendlichen Gedenkkonzert in der südrussischen Stadt teilnimmt und damit einen Kontrapunkt zu dieser Geschichtsvergessenheit setzt.

Das offizielle Nicht-Gedenken-Wollen reiht sich ein in die Konfrontationspolitik von USA, EU und NATO gegenüber Russland. Es passt zur anhaltenden Debatte über die Tradition der Bundeswehr, was sie ausmacht, ob und wie auch Wehrmachtssoldaten eine Rolle spielen dürfen, und es passt zur Geschichtsklitterung bezüglich der Rolle der Wehrmacht im Rahmen des Vernichtungskrieges insbesondere gegen die Sowjetunion. Hier fällt die Bundesregierung mittlerweile wieder hinter eigene Positionen zurück. Denn auf die Frage, ob der Überfall auf die Sowjetunion grundsätzlich ein verbrecherischer Angriffskrieg bleibt, den Hitler-Deutschland ohne jede Not eröffnet und als rassenideologischen Vernichtungsfeldzug geplant hatte, antwortet die Bundesregierung wörtlich: »Die Einordnung damaliger militärischer Handlungen der Wehrmacht als verbrecherisch im strafrechtlichen Sinne ist einzelfallbezogen vorzunehmen. Als verbrecherisch könnten Handlungen konkreter Täter einzustufen sein, die gegen anwendbares Recht verstießen, insbesondere Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit.« An anderer Stelle urteilt die Bundesregierung: »Eine moralische Bewertung des soldatischen Dienstes einzelner Wehrmachtsangehöriger kann nur auf der Grundlage des Prinzips der individuellen Verantwortlichkeit erfolgen.«

Das ist ein geschichtspolitischer Offenbarungseid. Die Angriffe der Wehrmacht auf Stalingrad waren ein Verbrechen – wie alle militärischen Handlungen der Naziwehrmacht im Rahmen des Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und ihre Menschen. Da gibt es keine »einzelfallbezogene« Abwägung.

Zur Erinnerung: Hitler selbst hatte seine Wehrmachtsgeneräle bereits im März 1941, vor dem Überfall auf die Sowjetunion, auf einen »Vernichtungskampf« eingeschworen. Mehr als 27 Millionen Menschen der Sowjetunion wurden Opfer dieses verbrecherischen Krieges. Das Deutsche Historische Museum, das der Bundesregierung zweifelsohne unverdächtig erscheinen dürfte, schreibt zum Überfall auf die Sowjetunion: »Die Nationalsozialisten gingen von der sozialdarwinistischen Vorstellung eines naturgegebenen ›Kampfes um das Dasein‹ der Völker und Rassen aus. Die Sowjetunion galt als Träger des ›jüdischen Bolschewismus‹ und als eine unmittelbare Bedrohung für das Deutsche Reich. Aus nationalsozialistischer Sicht war der Kampf der überlegenen ›arischen Rasse‹ gegen die sowjetischen ›Untermenschen‹ unausweichlich.« Und weiter heißt es da: »Der Feldzug im Osten war von Beginn an als ideologischer Weltanschauungs- und rassebiologischer Vernichtungskrieg konzipiert. Im Vordergrund standen die Eroberung von ›Lebensraum‹ sowie die wirtschaftliche Ausbeutung der eroberten Gebiete und der dort lebenden Menschen als Zwangsarbeiter. Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung und der sowjetischen Führungsschicht war von Anfang an vorgesehen.«

Der Kampf um Stalingrad, heute Wolgograd, war die größte Schlacht im Zweiten Weltkrieg. Sie dauerte vom 17. Juli 1942 bis zum 2. Februar 1943. Das Leid und die Verluste waren unbeschreiblich – auf beiden Seiten. Allein beim Brandbombenangriff der deutschen Luftwaffe mit 600 Flugzeugen am 23. August 1942 sind 40.000 bis 90.000 Menschen getötet worden. Erbittert geführt wurden die Kämpfe um die großen Rüstungsfabriken der Stadt, in der trotz der Angriffe weiter für die Verteidigung produziert wurde. Russischen Quellen zufolge wurden während der gut sechsmonatigen Kämpfe in und um Stalingrad 487.000 Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee getötet, 650.000 weitere verwundet. Auf seiten der Wehrmacht und ihrer Verbündeten starben 300.000 Soldaten, mehr als 90.000 Soldaten gerieten in Kriegsgefangenschaft. Nur 6.000 kehrten davon zurück.

Weil die Bundesregierung all dessen partout nicht mit den Menschen in Wolgograd gedenken will, hat die Fraktion Die Linke den Oberbürgermeister der südrussischen Stadt, Andrej Kossolapow, nach Berlin eingeladen. Neben Gesprächen im Bundestag soll die Veranstaltung »Das Fanal von Stalingrad: Befreiung statt Vernichtungskrieg – gute Nachbarschaft zu Russland« am 19. Februar im Münzenbergsaal der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin eine Brücke schlagen – von der deutschen Schuld zur deutschen Verantwortung für eine gute Nachbarschaft mit Russland und eine neue deutsche Ostpolitik.

Quelle: junge Welt