Typische Konstellation für die Vorbereitung eines Krieges

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich kann mich der Forderung nach einer Flugverbotszone in Libyen nicht anschließen, sondern stelle mich ihr sogar entschieden entgegen. Denn eine Flugverbotszone bedeutet nichts anderes, als dass die NATO oder eine "Koalition der Willigen" sich in einen weiteren Krieg im arabischen Raum stürzen würde, der ihre Kapazitäten vollends überschreiten und deshalb noch grausamer werden könnte. Außerdem wäre ein solcher Krieg geeignet, das Verhältnis zwischen westlicher und arabischer Welt weiter zu verschlechtern – so kurz, nachdem die Aufstände in Tunesien und Ägypten und auch die Demonstrationen in Libyen allen vor Augen geführt haben, dass die Menschen in arabischen Ländern ebenso – und teilweise noch mutiger – nach Würde, Rechten und Demokratie streben, wie die Bevölkerung des Westens. Insofern sehe ich in einer militärischen Eskalation eine große Gefahr nicht nur für den Ruf nach demokratischem Wandel in Libyen, sondern auch für die Demokratiebewegungen in Tunesien und Ägypten. Im Schatten eines Krieges in Libyen, der schnell auf andere Länder übergreifen kann, halte ich es für wesentlich wahrscheinlicher, dass sich in der Region erneut autoritäre Regime etablieren können.

Ihren Aufruf und erst recht den ursprünglichen Aufruf des AVAAZ-Netzwerkes halte ich für zutiefst unseriös, da er diese Risiken bewusst oder unbewusst negiert, eine wirklich naive Vorstellung vom Einsatz militärischer Mittel transportiert und in seinen moralischen Bewertungen über die Maße simplifiziert. In dem Ausschnitt des AVAAZ-Aufrufes, den Sie mir mit der Bitte um Unterstützung zusandten, ist beispielsweise von einheitlichen "Forderungen der libyschen Bevölkerung" die Rede, obwohl diese Bevölkerung gegenwärtig tief gespalten erscheint. Auch ist es schlicht unwahr, dass die Luftwaffe die „ausschlaggebende Waffe in dem Krieg" sei. Durch eine Flugverbotszone könne dem „Blutvergießen in Libyen ein Ende gesetzt werden". Eine Flugverbotszone setzt jedoch voraus, dass die gegnerische Luftabwehr außer Gefecht gesetzt wird und damit Bombardierungen, die stets auch die Zivilbevölkerung treffen. Eine Flugverbotszone „mit dem Schutz der Zivilbevölkerung als oberste[m] Prinzip" ist schlicht illusorisch. Das oberste Prinzip ist die Vermeidung eigener Verluste, da sonst ein solcher Einsatz auch nicht lange gegenüber den Bevölkerungen der beteiligten Staaten durchzusetzen oder durchzuhalten ist. Sie mögen das negativ beurteilen, es hat aber unmittelbar mit der demokratischen Kontrolle von Streitkräften zu tun und ist unter denen, die sich ernsthaft mit Militärpolitik auseinandergesetzt haben – durch alle politischen Lager – Konsens, dass sich gerade von parlamentarische Demokratien Kriege nur führen lassen, wenn der Schutz der eigenen Soldaten letztlich über den Schutz der Zivilbevölkerung geht. Ansonsten werden Sie sich auch mit heftigem Widerstand aus den Streitkräften selbst konfrontiert sehen.

Der ursprüngliche Aufruf von AVAAZ war v.a. von der Einseitigkeit der Darstellung her völlig inakzeptabel. Hier war auch die Rede davon, dass in Libyen ein „mutiger und friedsamer Aufstand niedergeschlagen" werde. Dieser Aufstand ist sicherlich mutig, aber friedsam ist er nicht mehr. Diejenigen, die diesen Aufstand jetzt führen, sind militärisch bewaffnet und organisiert. Sie haben es letztlich Gaddafi erleichtert, mit äußerster Härte gegen die vorzugehen, die friedlich für einen demokratischen Wandel eingetreten sind. Diese Stimmen sind mittlerweile verstummt. Es sind nur noch die zu hören, die einen Krieg führen und dessen Internationalisierung fordern.

Dieser Aufruf ist außerdem schon insofern kein seriöser Aufruf, weil er sich nicht „in offenem Gegensatz zu seiner Zeit befindet" (Tucholsky). Er fordert das, was in der gesamten westlichen Welt die Medien gegen die Einsprüche derjenigen – wiederum quer durch alle politischen Lager – einfordern, die wissen, was für Konsequenzen drohen. Wo alle dasselbe rufen, ist Skepsis angebracht. Und er fordert das, was längst passiert. Denn es ist wiederum naiv zu glauben, dass sich eine Flugverbotszone von Jetzt auf Nachher umsetzen ließe. Es müssen Kriegsschiffe in die Umgebung geschickt werden, Luftabwehrstellungen eingeschätzt und aufgeklärt und eine 24-Stunden-Luftraumüberwachung gewährleistet werden. Hierfür müssen Unmengen an militärischem Material verfrachtet und Stützpunkte in unmittelbarer Nähe geschaffen werden. Es müssen Verbündete „am Boden" gefunden und mit diesen Verhandlungen geführt werden. Die Bereitschaft der benachbarten Staaten muss geklärt werden, sich an einem langen Krieg zu beteiligen oder gegebenenfalls die Gegenseite zu unterstützen. All dies geschieht gegenwärtig bereits aus zwei Gründen:

  1. Weil Medien und zivilgesellschaftliche Netzwerke in völliger Unkenntnis der Konsequenzen und einer zurecht empörten, aber simplifizierenden Wahrnehmung der Konfliktkonstellation dies einfordern und
  2. aus geopolitischen Interessen, weil ein neuer, langer Krieg um die Kontrolle eines rohstoffreichen Landes sowie die Verschärfung des vermeintlichen Konflikts zwischen „westlichen Demokratien" und „arabischer Welt" einschließlich einer Ausweitung des „Krieg gegen den Terror" und dem Verstummen der Demokratiebewegungen im arabischen Raum, den Hoffnungen einiger neokonservativer Hardliner durchaus entgegenkommt.

Eine sehr typische Konstellation für die Vorbereitung eines Krieges.

Mit freundlichen Grüßen,

Sevim Dagdelen