Hagia Sophia: „Aggression Erdogans“

Foto: Arild Vågen/Wikipedia

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Christoph Heinemann

Christoph Heinemann: Frau Dagdelen, was spricht dagegen, ein als Gotteshaus errichtetes Gebäude in ein Gotteshaus umzuwandeln?

Sevim Dagdelen: Die Hagia Sophia war jetzt über 80 Jahre lang ein Museum. Sie gehört weder Christen, noch Muslimen, sondern ist ein Weltkulturerbe und sollte daher für Jedermann jederzeit auch zugänglich sein. Und es ist ja auch deshalb eine Schande, mit dieser Entscheidung politisch und religiös spalten zu wollen.

Hätte man zum Beispiel ein gemeinsames Gotteshaus gemacht, wäre dies sicher diskussionswürdig gewesen, aber es ging hier – und das zeigen ja auch Ihre O-Töne –, es geht hier um eine Machtdemonstration und um Machtpolitik und eine islamistische Agenda.

„Ein Akt der Aggression Erdogans“

Heinemann: Wozu benötigt Erdogan die Hagia Sophia?

Dagdelen: In zweierlei Hinsicht ist das wichtig. Dieser heutige Tag ist auch insofern mit dem Datum 24. Juli eine Zäsur für die Türkei. Zum einen wird hier jetzt endgültig Abschied genommen von der säkularen Türkei Atatürks. Die Entscheidung, die Hagia Sophia in ein Museum umzuwandeln, war ja auch zentral für die Konsolidierung der Türkei als eine säkulare Republik, in der mit Kalifat und Sultanat und der Verschränkung weltlicher und auch klerikaler Macht gebrochen werden sollte. Aber zum anderen wird der Vertrag von Lausanne, der die Grenzen der modernen Türkei auf den heutigen Tag genau vor 97 Jahren festgelegt hat, quasi aufgekündigt.

Dazu passt, dass der Chefberater des Präsidenten Erdogan, Herr Bulut, auf Twitter höchst persönlich diese Verbindung auch hergestellt hat, und alle Versuche, diesen Schritt Erdogans als, na ja, so etwas wie Symbolpolitik, als symbolische Politik oder als ein Zeichen der Schwäche zu verharmlosen, gehen aus meiner Sicht fehl. Der Akt, die Hagia Sophia in eine Moschee umzuwandeln, ist ein Akt der Aggression Erdogans. Es ist auch eine klare Kampfansage – zum einen an seine innenpolitischen Gegner und die Andersdenkenden in der Türkei, aber – und das ist das Wichtigste für uns als Bundesregierung und auch EU – eine regelrechte Kriegserklärung an die Nachbarstaaten der Türkei und alle Staaten, die historisch jemals Teil des osmanischen Reiches gewesen sind.

Heinemann: Bleiben wir zunächst mal in der Türkei. Sie sagten, das ist jetzt der endgültige Bruch mit Atatürk. Wenn man Steine islamisiert, folgen doch nicht unbedingt die Köpfe.

Dagdelen: Erstens sind es nicht nur Steine, die da islamisiert werden sollen. Jetzt werden ja erstens schon Stimmen laut, auch wenn man gesagt hat, temporär sollen die byzantinischen Fresken und Mosaiken beispielsweise in der Hagia Sophia verhüllt werden …

„Der Lausanner Vertrag soll sturmreif geschossen werden“

Heinemann: Während des Gebets!

Dagdelen: Ja, temporär. Aber die ersten Rufe werden jetzt laut, die tatsächlich abzunehmen, wirklich zu zerstören. Das ist ja ein Akt der kulturellen Barbarei, wie wir sie auch von den Taliban und des IS kennen beispielsweise.

Und zweitens wie ich sagte: Es ist nicht nur die Hagia Sophia als Umwandlung. Mit dem heutigen Tag ist auch verbunden die Aufkündigung des Lausanner Vertrages, und da muss man Erdogan auch ernst nehmen. Der Lausanner Vertrag soll hier sturmreif geschossen werden. Die Grenzen der Türkei sollen verändert werden. Wir wissen schon seit Jahren, dass auf den Landkarten der Türkei, teilweise auch, wo Erdogan selber zu sehen ist, die Türkei entgrenzt ist, dass Teile von Syrien, Irak, Teile zum Beispiel von den Dodekanes-Inseln Griechenlands oder Kreta mit zur Türkei gezählt werden.

Atatürk, der Republikgründer, der diesen Vertrag mit zu verantworten hat – so das Kalkül Erdogans –, soll hier als Schwächling erscheinen und im Lichte des Reichsgründers Erdogan verblassen, und insofern ist das nicht nur eine Umwidmung eines Museums in eine Moschee, sondern es geht um viel, viel mehr.

Heinemann: Wobei zwei dazugehören. Wieso kann es sich Erdogan erlauben, die türkische Identität mit dem sunnitischen Islam gleichzusetzen?

Dagdelen: Das ist eine Methode vor allen Dingen auch der Muslimbruderschaft, zu denen ja Erdogan sich zugehörig fühlt. Die versuchen, eigentlich die Religion meistens nur für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Es geht hier nicht nur in erster Linie um die Religion, wie ich sagte; es geht um den Lausanner Vertrag. Es geht auch darum, aus dieser einstigen Krönungskirche der byzantinischen Kaiser eine Schmuck-Cassette quasi seiner Machtentfaltung zu machen.

Es stimmt, dass dieser heutige Tag auch ein Manifest eines, muss man schon sagen, radikalisierten Islamismus ist, dem sich Erdogan und seine Regierung, bestehend aus Muslimbruder-nahen AKP-Politikern und auch der faschistischen MHP, auch verpflichtet fühlt. Wenn jetzt bei diesem Gebet in diesem Weltkulturerbe diese Fresken und Mosaiken verhüllt werden sollen und dafür diese Vorrichtungen in die Wände des heutigen Museums geschlagen werden sollen, dann ist natürlich auch klar, dass das eine Machtdemonstration für die Religion sein soll. Insofern: Es geht um beides. Ich sage immer kurzum: Es geht bei ihm um Kalifat und Sultanat. Beides, sowohl Machtpolitik als auch Religion.

„Die Religion instrumentalisiert für die politische Macht von Erdogan“

Heinemann: Inwiefern trifft Erdogans Religionspolitik – bleiben wir beim Thema – im Westen auch deshalb auf so viel Kritik, weil der Westen im Begriff ist, sein religiöses Erbe aufzugeben?

Dagdelen: Ich glaube, dass es eigentlich weniger um die Religionskritik geht, sondern hier wird von Erdogan – und das wissen Beobachter und Experten schon seit Jahren – die Religion instrumentalisiert für die politische Macht von Erdogan. Das wird meiner Meinung nach in der westlichen Hemisphäre nicht ernst genommen, nicht zur Kenntnis genommen, seit Jahren runtergespielt.

Wir wissen beispielsweise, dass die Türkei – schon seit Jahren sagen das die Sicherheitskreise, die Bundesregierung hat das 2016 gesagt – unter Erdogan zu einer zentralen Aktionsplattform für den islamistischen Terrorismus in der ganzen Region geworden ist. Wir wissen, dass er diese Politik in Syrien führt. Wir wissen, dass er das in Libyen führt. Wir wissen, dass er sogar auf dem Balkan, bis nach Somalia hin und jetzt auch noch im Jemen diese Politik führt mittels der Religion.

Heinemann: Wie sollte man darauf reagieren?

Dagdelen: Wie man hier reagieren soll? Was man bisher getan hat, war jedenfalls, das runterzureden, nicht ernst zu nehmen. Und wer jetzt nicht aufwacht, der wacht nimmermehr auf, weil es geht um deutlich mehr als nur die Innenpolitik in der Türkei. Die Bundesregierung muss diese Kampfansage Erdogans ernst nehmen und dazu muss es jetzt eine klare Haltung geben.

„Ohne Berlin und Brüssel wäre Erdogan längst am Ende“

Heinemann: Was heißt das genau? Welche Reaktion, Frau Dagdelen?

Dagdelen: Die Reaktionen müssen sein, dass man Erdogan nicht weiter unterstützt, weil ohne Berlin und Brüssel wäre Erdogan längst am Ende. Es geht um die Finanz- und Wirtschaftshilfen, es geht um die Militärlieferungen, es geht darum, dass man die Türkei quasi bei der Unabhängigkeit in der Rüstungsindustrie und Produktion mit deutschen Mitteln seit Jahren unterstützt. Und jetzt wundert man sich, dass die Türkei schon so weit ist, mit eigenen Rüstungsgütern in Libyen als Game Changer aufzutreten.

„Dieses Flüchtlingsabkommen hat uns mehr Schaden angerichtet“

Heinemann: Sollte man das auch um den Preis einer Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens tun?

Dagdelen: Dieses Flüchtlingsabkommen hat uns mehr Schaden angerichtet als jemals zuvor. Den Flüchtlingen hat es nicht geholfen und uns hat es erpressbar gemacht. Insofern muss man das aufkündigen. Man muss die Beitrittsverhandlungen aussetzen, weil sie überhaupt nicht fortgesetzt werden können unter Erdogan. Man muss die Zollunion auf den Prüfstand stellen, statt jetzt die Verhandlungen weiterzuführen, um das auszubauen, weil das versteht Erdogan nur als Ermutigung weiterzumachen.

Sehen Sie, wir sind jetzt im Moment an einem Zeitpunkt angelangt, wo tatsächlich ein Überfall Erdogans auf Griechenland möglich erscheint, und damit muss man auch tatsächlich rechnen, und das wahrscheinlich auch noch mit deutschen Rüstungsgütern, die man für den maritimen Bereich in den letzten Jahren an die Türkei geliefert hat. Und wenn man das jetzt nicht ernst nimmt und Konsequenzen daraus zieht und sagt, keine Waffe und kein Geld mehr für Erdogan, und man muss jetzt klare Kante zeigen, dann weiß ich nicht, was noch passieren soll.

Wollen wir es riskieren, dass EU-Mitglieder wie Zypern oder Griechenland militärisch überzogen werden von der Türkei? Ich glaube nicht, dass das sinnvoll ist.

Quelle: Deutschlandfunk

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