Verstöße gegen den EU-Visakodex in der deutschen Visumpraxis
Verstöße gegen den EU-Visakodex in der deutschen Visumpraxis
Meine Schreiben vom 20. August 2012 und 18. September 2012
Sehr geehrter Herr De Ceuster,
mit den oben genannten Schreiben hatte ich Sie auf Verstöße der Bundesrepublik Deutschland gegen den EU-Visakodex hingewiesen und entsprechendes Belegmaterial beigesteuert. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich darüber unterrichten könnten, welche Maßnahmen die Europäische Kommission diesbezüglich mit welchem Erfolg ergriffen hat bzw. noch ergreifen wird.
Die damals erst infolge einer Beschwerde meiner Fraktion nachträglich gegebenen Informationen der Bundesregierung unter anderem zu Wartezeiten für Vorsprachetermine in den Visastellen wurden auf unser Verlangen hin nachträglich als Bundestags-Drucksache veröffentlicht, auf die ich verweisen möchte (vgl. Bundestagsdrucksache 17/12476).
Meine Fraktion hat in diesem Jahr eine weitere parlamentarische Anfrage an die Bundesregierung zur Visapraxis gerichtet, auf die entsprechenden Antworten möchte ich Sie ebenfalls hinweisen (vgl. BT-Drs. 17/12755). Wegen unzureichender Beantwortung einiger Fragen werden wir erneut Beschwerde einreichen. Unter anderem wurde auf die Frage 7, wie lange (!) die Wartezeiten auf einen Vorsprachetermin direkt in Visastellen sind, die mit externen Dienstleistern zusammenarbeiten, lediglich geantwortet, dass in derzeit in sieben Visastellen weltweit die Wartezeit in diesen Fällen „über 2 Wochen" betrage. Die genaue Wartezeit wurde also verschwiegen, zudem muss die Richtigkeit dieser Auskunft in Zweifel gezogen werden, denn wie eine einfache Recherche im Internet ergab (die Terminvereinbarung zur Vorsprache in den chinesischen Visastellen wird transparent über das Internet abgewickelt, die genauen Wartezeiten sind mithin jederzeit öffentlich überprüfbar[1]), lagen Ende März 2013 (dies ist nicht gerade die Hauptreisezeit!) die Wartezeiten für einen Termin in den Visastellen nicht nur in Shanghai, wie von der Bundesregierung zu Frage 7 eingeräumt, sondern auch in Peking und Chengdu über zwei Wochen, und zwar deutlich (6-7 Wochen).
Eine Nach-Recherche am 7. Mai 2013 ergab im Übrigen folgende Wartezeiten für einen Vorsprachetermin zur Visabeantragung in einer Visastelle in China:
- Peking: mehr als 9 Wochen (erster freier Termin: 10. Juli 2013);
- Chengdu: 4 Wochen (erster freier Termin: 4.6., dann 17.6.2013);
- Kanton: 3 Wochen (ab frühestens 29.5.2013);
- Shanghai: in den nächsten 4 Wochen war kein Termin erhältlich, eine Buchung darüber hinaus nicht möglich.
Solche Wartezeiten sind, da werden Sie mir zustimmen, unter keinen Umständen akzeptabel!
Aus meiner Sicht gibt es in der aktuellen deutschen Visapraxis insbesondere folgende kritische Aspekte bzw. Verstöße gegen den EU-Visakodex:
- Verletzung der zweiwöchigen Wartefrist in Visastellen bei Einsatz externer Dienstleister
- Rechtswidriger pauschaler Einsatz externer Dienstleister zur Personalentlastung
- Des-Informationspolitik über das Verfahren im Internet (selektive Informationen zum Einsatz externer Dienstleister bzw. zur Antragstellung in Visastellen, keine Auskünfte über Fristen nach dem Visakodex)
- Charakter des Visa-Handbuchs, das von der Bundesregierung als nicht verbindlich betrachtet wird (etwa hinsichtlich der Vorgabe, dass die maximal zweiwöchige Wartezeit auch in Ferienzeiten beachtet werden muss)
Zur näheren Begründung möchte ich auf meinen ausführlichen Artikel zu dieser Thematik im Internet-Fachportal MiGAZIN.de hinweisen, in dem ich die aus meiner Sicht bestehenden Verstöße gegen EU-Recht im Detail dargelegt habe (anbei auch als Ausdruck):
http://www.migazin.de/2013/04/09/rechtswidrige-privatisierung-visumverfahren/
Insbesondere entsteht der Eindruck, dass externe Dienstleister von der Bundesregierung systematisch dazu eingesetzt werden, um den selbstverschuldeten Personalmangel in den Visastellen auszugleichen. Die pauschale Behauptung der Bundesregierung zu Frage 6 auf BT-Drs. 17/12755: „In den Ländern, in denen die Auslagerung von Dienstleistungen nach Einführung des Visakodex erfolgt ist, ist sie sogenanntes ‚letztes Mittel‘ im Sinne des Artikels 40 Visakodex", bleibt völlig unbelegt.
Insbesondere stellt sich die Frage, weshalb in Städten, in denen es bislang schon Visastellen gab, externe Dienstleister das „letzte Mittel" sein sollen, um allenfalls leicht gestiegene Visazahlen bearbeiten zu können. Eine solche Begründung ist jedenfalls solange nicht nachvollziehbar, wie die eingesetzten Mitarbeiterkapazitäten im Visumbereich aktuell sogar noch niedriger sind als vor drei Jahren[2]: Die Zahl der bearbeiteten Visaanträge ist von 2009 (Inkrafttreten des Visakodex) bis 2012 z.B. in Russland um 18 Prozent gestiegen. Die Zahl der eingesetzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ging im gleichen Zeitraum jedoch um 15 Prozent zurück. Die „Belastung" der Mitarbeitenden (bearbeitete Fälle pro Jahr) stieg damit um 38 Prozent.
Zweites Beispiel: In der Türkei stieg die Zahl der bearbeiteten Visa von 2009 bis 2012 um 23 Prozent, die eingesetzten Mitarbeiterkapazitäten sanken jedoch um 13,4 Prozent. Im Ergebnis stieg die Arbeitsbelastung um 42,2 Prozent.
Lediglich in China wurde die Zahl der MitarbeiterInnen in den Visastellen von 2009 bis 2012 real erhöht, um 22,7 Prozent. Da jedoch die Zahl der Visa um 56,5 Prozent anstieg, ergab sich auch hier eine Mehrbelastung der einzelnen MitarbeiterInnen um 27,5 Prozent.
Zu den Einzelheiten möchte ich auf die Tabelle im Anhang verweisen, aus der diese Zahlen und Entwicklungen übersichtlich hervorgehen.
Auf die Desinformationspolitik der Bundesregierung im Internet möchte ich aus aktuellem Anlass noch einmal gesondert eingehen. Zunächst möchte ich erneut auf meine diesbezüglichen Ausführungen im oben bereits verlinkten MiGAZIN-Artikel verweisen: Auf den von mir besuchten Webseiten der deutschen Generalkonsulate / Visastellen in Russland, der Türkei und China wurde zumeist der Eindruck erweckt, die neu eingesetzten (kostenpflichtigen) externen Dienstleister müssten künftig zur Visa-Antragstellung genutzt werden. Die Information, dass auch beim Einsatz externer Dienstleister eine (kostenfreie) Vorsprache weiterhin immer in den Visastellen möglich ist, wird zum Teil nur versteckt gegeben, zum Teil verbunden mit dem Hinweis, dass dies aber nur im Rahmen verfügbarer Termine möglich sei (die dann häufig erst in vielen Wochen zur Verfügung stehen – siehe oben). Dass auch bei einer Vorsprache in den Visastellen eigentlich die maximale zwei-Wochen-Wartefrist für einen Termin einzuhalten ist, wurde auf keiner der Webseiten mitgeteilt.
Mit Abruf der Webseite des Generalkonsulats in Istanbul[3] am 7. Mai 2013 musste ich folgende Feststellung machen: Enthielten die dort verlinkten „Allgemeinen Hinweise zur Visabeantragung" Ende März 2013 den Hinweis auf die mögliche kostenfreie Antragstellung in der Visastelle im Kapitel „Antragstellung" versteckt auf der Seite 2, was ich schon bedenklich fand, so stellte ich mit Abruf des Dokuments am 7. Mai 2013 fest, dass dieser Hinweis weiter nach hinten auf die Seite 3 verschoben und unter der Überschrift „Visumgebühren" versteckt wurde:
„Sollten Antragsteller den Service der Firma iDATA nicht in Anspruch nehmen wollen, haben sie die Möglichkeit, ihren Visumantrag unmittelbar im Generalkonsulat Istanbul einzureichen. Termine dafür erhalten Antragsteller mittwochs zwischen 13:00 und 14:00 Uhr direkt in der Visastelle, Inönü Caddesi Nr. 10. Eine telefonische Terminvereinbarung ist nicht möglich. Die Termine werden kostenfrei und nach Verfügbarkeit vergeben. Für kostenfreie Anträge in der Botschaft Ankara ist zuvor unter Tel. 4448493 ein Termin zu vereinbaren."
Während die kostenfreie Terminvereinbarung für die Vorsprache in den Visastellen in der Türkei zuvor über eine türkeiweit gültige, und zusätzlich auch über eine aus dem Ausland erreichbare Telefonnummer möglich war, ist nunmehr also (Ausnahme Ankara) eine persönliche Vorsprache in der Visastelle zur Terminvereinbarung erforderlich – in einem zeitlichen Korridor von nur einer Stunde in der Woche! Das ist meines Erachtens ein inakzeptables Verfahren, das durch Schikanen und Benachteiligungen im regulären Antragsverfahren die Visabeantragenden zur Inanspruchnahme der externen Dienstleister „zwingen" will.
Es drängt sich wie gesagt der Eindruck auf, dass die Bundesregierung die unzureichende Personalausstattung in den Visastellen durch den systematischen Einsatz externer Dienstleister ausgleichen will – was nach meiner Ansicht einen doppelten Verstoß gegen den EU-Visakodex darstellt (nämlich gegen die Verpflichtung, eine gute Dienstleistung und ausreichend qualifiziertes Personal vorzuhalten, sowie gegen die Verpflichtung, externe Dienstleister nur als letztes Mittel einzusetzen).
Der „Tagesspiegel" hat am 8.4.2013 kritisch über die Wartezeiten im Visumverfahren und über den systematischen Einsatz externer Dienstleister berichtet. Ich werte dies als Beleg dafür, dass die hiesige Öffentlichkeit weiterhin sehr an dem Thema und an der Einhaltung von EU-Recht und einer wirksamen Kontrolle durch die EU-Kommission interessiert ist:
http://www.tagesspiegel.de/politik/warten-auf-ein-visum/8030550.html
Auch das Fachportal MiGAZIN berichtete entsprechend:
http://www.migazin.de/2013/04/09/deutschland-tut-sich-schwer-mit-visaerteilungen/
Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir über den aktuellen Stand Ihrer Aktivitäten in Bezug die deutsche Visumpraxis berichten könnten und freue mich, falls Ihnen die hiermit übermittelten Informationen für die Wahrnehmung Ihrer Aufgaben nützlich sein sollten.
Mit freundlichen Grüße,
Sevim Dagdelen
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[1] http://www.china.diplo.de/Vertretung/china/de/01-service/visa/peki/termin-120829-s.html
[2] Die nachfolgenden Angaben beruhen auf folgenden Quellen: Der Bundestagsdrucksache 17/8221 ist auf den Seiten 12/13 zu entnehmen, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Visabearbeitung in den Jahren 2006 bis 2010 eingesetzt wurden und wie sich die Visazahlen entwickelt haben; aktuelle Zahlen für die Jahre 2011 und 2012 finden sich auf der Bundestagsdrucksache 17/12755 auf der Seite 78.
[3] http://www.istanbul.diplo.de/Vertretung/istanbul/de/07/iDATA/Antragsverfahren-idata.html