Warnung auf türkisch

Keiner oder alle. Alles oder nichts!« – diese bei Arbeiterprotesten in der Türkei oft skandierte Zeile eines Brecht-Gedichts wurde am Donnerstag zur materiellen Realität. Landesweit traten Millionen Werktätige in einen Solidaritätsstreik mit den seit 52 Tagen um ihre Arbeitsplätze kämpfenden Angestellten des staatlichen türkischen Tabakmonopols Tekel. »Wir haben von unserem verfassungsmäßigem Recht Gebrauch gemacht, nicht zu arbeiten«, erklärte Mustafa Kumlu. Der Vorsitzende der größten Gewerkschaftskonföderation der Türkei, Türk-Is, nannte den Streik eine ernste Warnung an die Regierung.

Nach dem Verkauf der staatlichen Tabakfabriken an British American Tobacco hatte die islamisch-konservative AKP-Regierung die Schließung der landesweiten Tekel-Lager verfügt und den 12000 Beschäftigten die Überführung in den sogenannten 4/C-Status aus zehnmonatiger Kurzarbeit mit drastischen Gehaltseinbußen und dem Verlust sozialer Rechte angeboten. Die Tekel-Arbeiter nennen 4/C ein Ver­sklavungsgesetz und fordern statt dessen ihre Übernahme in andere staatliche Betriebe ohne Lohnverlust.

Nachdem Verhandlungen mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gescheitert waren, hatte Türk-Is am Dienstag gemeinsam mit den Gewerkschaftsföderationen DISK, KESK, Hak-Is und Kamu-Sen zu der gestrigen Arbeitsniederlegung aufgerufen, die von zahlreichen Berufsverbänden, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt wurde. Da Arbeitern nach türkischen Gesetzen die Teilnahme an Solidaritätsstreiks verboten ist, sprachen die Gewerkschaften statt von einem Generalstreik von einer Generalaktion.

Zehntausende Gewerkschafter demonstrierten in Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Adana und Diyarbakir. Während in Izmir an der Ägäisküste das öffentliche Leben durch den Streik zum Erliegen kam, Bergleute in der Schwarzmeerprovinz Zonguldak die Arbeit ruhen ließen und im kurdischen Batman die Ölraffinerien stillstanden, blieb die Streikbeteiligung in Istanbul und Ankara gering. Die Bedeutung des in nur zwei Tagen vorbereiteten Streiks lag damit weniger in der Gesamtzahl der Streikenden als in seiner landes- und branchenweiten Ausdehnung. Selbst auf dem 5165 Meter hohen Berg Ararat hißte eine 20köpfige Bergsteigergruppe ein Solidaritätstransparent. »Wenn die Tekel-Arbeiter in der Kälte stehen müssen, gehen auch wir in die Kälte«, erklärten die Sportler auf dem eisbedeckten Gipfel.

Längst ist der beharrliche Kampf der Tekel-Arbeiter zu einem Fokus für alle Opfer der im Zuge der EU-Anpassung erfolgten neoliberalen Regierungspolitik geworden. »Die Errungenschaften der Tekel-Arbeiter sind in Wirklichkeit eine Errungenschaft für das türkische Volk«, erklärte der Präsident des sozialdemokratischen Gewerkschaftsdachverbandes DISK, Süleyman Celebi, und nannte die Tekel-Arbeiter das »Gewissen der Türkei«.

Erdogan beschuldigte unterdessen die Tekel-Arbeiter, sich von »extremistischen Kräften« zum Kampf gegen die Regierung mißbrauchen zu lassen. Sollten die »illegalen« Proteste bis Monatsende nicht beendet sein, werde der Staat dagegen vorgehen. »Vor Ort habe ich erfahren, wie wichtig gerade auch die internationale Solidarität für den Kampf der Tekel-Beschäftigten ist«, erklärte die Sprecherin für Internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion Die Linke, Sevim Dagdelen, in Ankara und forderte die türkische Regierung auf, die Forderungen der Streikenden zu erfüllen.