Warum eine linke Kritik am Migrationspakt notwendig ist

Von Sevim Dagdelen

Kurz vor der Unterzeichnung des UN-Migrationspakts am 10. und 11. Dezember in Marrakesch haben sich die Koalitionsfraktionen doch noch entschlossen, einen Antrag dazu in den deutschen Bundestag einzubringen. Der Antrag solle unterstreichen, dass „der Migrationspakt deutschen Interessen dient“, wichtig sei, dass Migration geordnet, gesteuert und begrenzt werden solle. Der Pakt „begründet keine einklagbaren Rechte und Pflichten und entfaltet keinerlei rechtsändernde oder rechtssetzende Wirkung“, heißt es im Antragsentwurf von Union und SPD.

Vorausgegangen war ein beispielloses Versagen der Bundesregierung. Während der Verhandlungen zum Migrationspakt wurde die Öffentlichkeit praktisch nicht informiert. Dies schuf den Raum für eine Angstkampagne der AfD, die mit völkischen Vokabeln vor einer angeblichen Souveränitätsaufgabe der Bundesrepublik Deutschland und einer durch den Pakt beförderten Masseneinwanderung warnte. Die Angstkampagne der AfD hatte wiederum zur Folge, dass auf der anderen Seite eine ungeheuerliche Beschönigung einsetze, die mit offensichtlich falschen Argumenten operierte, im Pakt sei die Bekämpfung von Fluchtursachen festgeschrieben.

Ich habe als einzige Bundestagsabgeordnete an den Verhandlungen in New York teilgenommen – das Interesse zum Migrationspakt war damals, um es vorsichtig zu formulieren, bei den anderen Fraktionen nicht gerade überwältigend. In allen Beiträgen habe ich darauf gedrängt, dass ein Recht, nicht migrieren zu müssen, in den Pakt mit aufgenommen und die konkrete Bekämpfung der Ursachen von Flucht und Migration verankert wird. Aber gerade die Bundesregierung sperrte sich erfolgreich gegen eine Änderung ihrer Politik.

Der Migrationspakt, will man ihn in einem Satz charakterisieren, ist nichts anderes als die Fortsetzung der verheerenden Migrationspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Hilfe einer politischen Erklärung der UNO. So nimmt es nicht wunder, dass alle Forderungen der afrikanischen Staaten, im Pakt die Bekämpfung der Ursachen von Migration anzugehen, abgewiesen wurden. Statt globaler Gerechtigkeit bekamen die Länder des Südens den Brain-Drain, die Abwanderung von ausgebildeten Menschen. So wurde keine Verpflichtung implementiert, Rüstungsexporte und die Zerstörung ganzer Volkswirtschaften im Süden durch Freihandelsabkommen zu stoppen. Es wurden vielmehr lediglich Vereinbarungen getroffen, wie erleichtert Fachkräfte aus den Ländern des Südens angeworben werden können.

Die Bundesregierung leitete zuletzt knapp zwei Jahre lang das Global Forum on Migration and Development und legte dort den Schwerpunkt auf die Arbeit am Migrationspakt. Auch andere globale Akteure haben am Migrationspakt mitgestrickt, darunter das Weltwirtschaftsforum, das jährlich in Davos mächtige Politikerinnen und Politiker mit noch mächtigeren Wirtschaftslenkern zusammenführt. Der Migrationspakt ist entsprechend auf die Bedürfnisse der Industrieverbände des Nordens zugeschnitten und will die als grundsätzlich positiv dargestellte Migration aktiv befördern, während die negativen Aspekte für die Länder des Südens ausgeblendet bleiben. Arbeitskräftemobilität soll in Einklang mit den Bedürfnissen der Zielmärkte, mit der dortigen Arbeitsmarktnachfrage und dem Qualifikationsangebot gebracht werden. So steht es ausdrücklich unter Ziel 5 formuliert. Die Privatwirtschaft soll stark in die Implementierung eingebunden werden („business mechanism“). An den Verhandlungen zum Migrationspakt wurde bezeichnenderweise sogar das Dienstleistungsunternehmen Uber beteiligt.

In Deutschland trommeln die Arbeitgeberverbände und die ihnen nahestehenden Wirtschaftsinstitute (zuletzt DIHK, IW), die über fehlende Fachkräfte klagen, für mehr Zuwanderung, auch aus Drittstaaten und zunehmend auch in Arbeitsmarktsegmente mit niedrigeren Qualifikationsanforderungen. Die Gewerkschaften und gewerkschaftsnahe Wirtschaftsinstitute (Hans-Böckler-Institut) haben wiederholt nachgewiesen, dass die Berechnungen der Arbeitgeberverbände völlig aus der Luft gegriffen und offensichtlich interessengeleitet sind.

Allein in Berlin haben in diesem Jahr bis zum Herbst fast 3500 Bewerberinnen und Bewerber keinen Ausbildungsplatz gefunden. Das sind fast 50 Prozent mehr als im letzten Jahr. Die Industrie beklagt, zynisch, die mangelnde Ausbildungsfähigkeit der Schulabgängerinnen und Schulabgänger. Jungen Menschen wird erst Bildung und dann die Ausbildung vorenthalten. Davon sind vor allem junge Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Unter den in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten ist jeder Vierte ohne Berufsausbildung, jeder Zehnte ohne Schulabschluss. Und gleichzeitig wird von den Arbeitgebern der Ruf nach Fachkräftezuwanderung aus Drittstaaten erhoben. Die OECD und die Bundesbank haben in Studien darauf hingewiesen, dass Zuwanderung vor allem in niedrigqualifizierte Arbeit in den unteren Gehaltsgruppen als Lohnbremse wirkt. Und auch davon sind vor allem Menschen mit Migrationshintergrund betroffen.

Der Brain-Drain lähmt – neben zerstörerischen Freihandelsabkommen und Rüstungsexporten, die ständig neue Konflikte in den Ländern des Südens schaffen – die wirtschaftliche Entwicklung. Vom Migrationspakt versprechen sich die Arbeitgeber in den Industriestaaten eine globale Ausweitung dieser an Lohnminimierung orientierten weltweiten Allokation von Arbeitskräften.

Linke Entwicklungssoziologen aus den Ländern des Südens beklagen, dass mit der Abwanderung von ausgebildeten jungen Menschen ein Milliarden-Transfer von Süd nach Nord stattfindet. Bis zu 50 Prozent der akademisch Ausgebildeten wandern aus Ländern des Südens ab. Tausende Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger aus Ländern des Südens arbeiten in Europa, während in den Herkunftsländern Menschen oftmals medizinisch unterversorgt sind und mangels Behandlung an einfachen Erkrankungen sterben. Selbst rudimentäre Versorgung kann nur im Rahmen von Entwicklungshilfe aufrechterhalten werden kann.

Vertreterinnen und Vertreter des Südens fordern zumindest eine Kompensation des Nordens für die geleisteten Ausbildungskosten. Diese Zusammenhänge finden im Migrationspakt leider keinen Platz. Stattdessen wird auf die von liberalen Entwicklungstheoretikerinnen und -theoretikern in diesem Zusammenhang gerne angeführten Rücküberweisungen von Migrantinnen und Migranten an ihre Familien hingewiesen, die erleichtert werden sollen. Das ist zwar im Sinne der betroffenen Familien zu begrüßen, jedoch haben die Rücküberweisungen keine nachweisbaren nachhaltigen Entwicklungseffekte. Sie stärken zwar den individuellen Konsum, aber das geht meist einher mit zusätzlichen Importen, Inflation, einem Anstieg informeller schlecht bezahlter Jobs und dem Wegfall von gut bezahlten Jobs im Bereich der Produktion handelbarer Güter und damit dem Sinken der Produktivität und der Verschlechterung der Zahlungsbilanz. Der positive Effekt durch Erhöhung von Kaufkraft kann die negativen Effekte nicht aufwiegen. Bislang fehlt jede Evidenz aus Ländern mit hohen Rückflüssen, dass diese eine nachhaltige Entwicklung angestoßen hätten. Die Kritik an internationalen „Sorgeketten“, die vor allem zu Lasten der Frauen in den Ländern des Südens gehen, wird auch in keiner Weise thematisiert.

Regierungen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Ländern des Südens kritisieren außerdem, dass die Bekämpfung der Ursachen von Migration im Migrationspakt keinen Platz hat. Migration ist Ausdruck von Ungleichheit. Ihre strukturellen Ursachen in der kapitalistisch globalisierten Welt werden im Pakt nicht analysiert. So werden im Migrationspakt statt einer echten Flucht- und Migrationsursachenbekämpfung lediglich entwicklungspolitische Maßnahmen vorgeschlagen, darunter die Verbesserung von Bildung und Ausbildung, die jedoch, wenn keine wirtschaftliche Entwicklung vor Ort stattfindet, eher zu mehr Migration führen wird. Entscheidend dafür, dass eine eigenständige Entwicklung stattfinden kann, die Arbeitskräfte lokal bindet, wäre beispielsweise eine andere Handelspolitik. Auch davon ist im Migrationspakt natürlich keine Rede.

So kann festgehalten werden, dass der Migrationspakt vor allem die Interessen der deutschen Konzerne bedient, kostengünstig gut ausgebildete Arbeitskräfte abzuwerben. Weder verliert Deutschland seine Souveränität, noch wird die Tür für eine massive Einwanderung geöffnet. Aber gerade die Enteignung des Südens durch das Abwerben von Fachkräften wird noch mehr Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen, weil ihre Länder im Interesse der Steigerung kurzfristigen Profits regelrecht zerstört werden. Der Migrationspakt, auch wenn er die Rechte von Migrantinnen und Migranten positiv fixiert, dient so vor allem als Transmissionsriemen von Kapitalinteressen. Eine Kritik von Links am Migrationspakt ist daher mehr als notwendig.

Sevim Dagdelen ist eine deutsche Politikerin der Partei Die Linke. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag.

Quelle: Internationale Politik und Gesellschaft

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