"Widerstand mit Betroffenen organisieren"

Interview: Rüdiger Göbel

Sevim Dagdelen ist Bochumer Bundestagsabgeordnete und Sprecherin der Fraktion Die Linke für Internationale Beziehungen

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles will von Armut in Deutschland nichts wissen. Es verhungere ja keiner, so die Haltung der Sozialdemokratin. Wie erleben Sie das Problem in Ihrem Wahlkreis in Bochum?

Wer sich wie Frau Nahles positioniert, hat von der Lebensrealität der Menschen keine Ahnung. Ich finde derlei Ansichten zynisch und auch menschenverachtend, weil die offensichtlichen Probleme dadurch nicht nur verharmlost, sondern rundum geleugnet werden. Schon seit Jahren ist im gesamten Ruhrgebiet, auch ganz konkret in meinem Bochumer Wahlkreis, zu beobachten, wie sich die soziale Situation der Menschen kontinuierlich verschlechtert hat. So ist die Armutsquote allein in den vergangenen fünf Jahren um 20 Prozent gestiegen. In Bochum wurde im vergangenen Jahr das Opel-Werk geschlossen, was die Lage einmal deutlich verschlimmert hat. Den 3.000 betroffenen Opelanern droht nach maximal zwei Jahren in einer »Transfergesellschaft« die Arbeitslosigkeit. Ich habe mich stets mit den Opel-Beschäftigten solidarisiert, und der Umgang mit den Betroffenen zeigt mehr als deutlich, wie notwendig es ist, endlich ein gesetzliches Verbot von Massenentlassungen auf den Weg zu bringen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass auch in anderen Ruhrgebietsstädten weitere Werksschließungen und damit verbundene Stellenvernichtungen angekündigt wurden.

In Berlin sieht man immer häufiger Ältere in Abfalleimern Pfandflaschen suchen. Ist das ein Phänomen der armen Hauptstadt, oder kennen Sie das auch aus dem Ruhrgebiet?

Das ist ein immer öfter zutage tretendes Phänomen, welches ich auch aus meinem Wahlkreis kenne. Es beschämt mich zutiefst, dass Menschen in einem reichen Land wie der Bundesrepublik darauf angewiesen sind, Pfandflaschen aus dem Müll zu holen, um sich ein kleines Zubrot zu verdienen. Es kann doch nicht wahr sein, dass ausgerechnet Ältere, die nicht selten ihr Leben lang gearbeitet haben, derart über die Runden kommen sollen. Das Problem ist, dass die Menschen oftmals während ihres Erwerbslebens nicht vernünftig für die von ihnen verrichtete Arbeit bezahlt wurden, was dazu führt, dass auch die Renten gering ausfallen und nicht zum Leben reichen. Von dem immer größer werdenden Belastungsdruck auf die Menschen oder den Auswirkungen von Erwerbslosigkeit ganz zu schweigen.

Wie sehen die Gegenstrategien Ihrer Partei aus?

Wir brauchen einen ganzes Bündel an Maßnahmen. Es geht darum, eine Umverteilung von oben nach unten einzuleiten. Im Augenblick erleben wir ja dagegen ein dramatisches Anwachsen von Armut. Zugleich nimmt die Oligarchisierung in Deutschland immer verheerendere Ausmaße an. Deutschland ist mit 123 Milliardären inzwischen auf dem dritten Platz weltweit angelangt, noch vor Russland. Bis zu 60 Prozent der DAX-Unternehmen werden von Oligarchen kontrolliert. Die Linke muss hier die Eigentumsfragen stellen, um die Enteignung der Beschäftigten zu stoppen. Auch müssen die Kommunen finanziell deutlich besser ausgestattet werden, um die soziale Infrastruktur nicht nur zu erhalten, sondern auszubauen. Kürzungshaushalte auf Kosten der Menschen lehne ich explizit ab. Wir brauchen eine radikale Umkehr in der Steuer- und Finanzpolitik, um die Armutsspirale zu stoppen. Zugleich müssen die Menschen über ein Auskommen verfügen, das zum Leben reicht. Ich möchte nicht, dass noch mehr Menschen darauf angewiesen sind, mehrere Jobs parallel zueinander ausüben zu müssen, um überhaupt genügend Geld für ihre Lebenshaltungskosten aufbringen zu können. Neben höheren Löhnen, einem Verbot von Leiharbeit und Massenentlassungen setzen wir uns auch für eine deutliche Erhöhung der ALG-II-Regelsätze und der Grundsicherung ein. Auch die Sanktionspolitik gegen Erwerbslose lehnen wir rundum ab. All das wäre übrigens finanzierbar, wenn endlich einmal Spitzeneinkommen und große Vermögen ordentlich besteuert würden.

Mit wem wollen Sie das realisieren? Mit Andrea Nahles und SPD-Chef Sigmar Gabriel dürfte das eher schwierig werden …

Die SPD gibt sich nach außen gern sozial. Doch selbst von einer symbolischen Vermögenssteuer hat sie sich mittlerweile verabschiedet. In der Realität ist sie kein Stück bereit, mit der neoliberalen Politik zu brechen. Gleiches gilt für Bündnis 90/Die Grünen, deren Spitzenkräfte um Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir auf Schwarz-Grün setzen. Anstatt über Koalitionsmodelle zu spekulieren, wollen wir gemeinsam mit den Betroffenen den Widerstand organisieren. Es ist längst an der Zeit, dass sich verschiedene außerparlamentarische Akteure, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, vor allem aber die Betroffenen selbst zusammentun für ein Bündnis gegen die Verarmung von immer mehr Menschen und die zunehmende Bereicherung einiger weniger. Mit unserer Konferenz »Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!« am Freitag in Bochum wollen wir die Diskussion dazu anstoßen. Wie gesagt: Ziel muss ein breites Bündnis gegen die zunehmende soziale Spaltung in Deutschland sein. Die Zustände im Ruhrgebiet sind dazu angetan zu sagen: Lasst uns hier beginnen.