"Wir brauchen Entspannung"

Sevim Dagdelen (LINKE) über Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und den Ukrainekrieg

Am Freitag wird der 70. Jahrestag der Befreiung begangen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat mit Blick auf die Geschichte von der »besonderen Verantwortung Deutschlands für den Frieden auf der Welt« gesprochen. Stimmen Sie Ihrem SPD-Kollegen zu?

Sevim Dagdelen: Wenn Herr Steinmeier mit Verantwortung meinen würde, dem Schwur der überlebenden KZ-Häftlinge »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!« vollends Geltung zu verschaffen, wäre ich einverstanden. Steinmeiers Begriff der Verantwortung steht aber im Widerspruch zu der Mahnung, dass von deutschem Boden niemals wieder Krieg ausgehen darf. Die Bundesregierung will mehr Bundeswehreinsätze im Ausland. Das ist genauso fatal wie das Fernbleiben von Frau Merkel bei der Siegesparade in Moskau am 9. Mai.

Die Bundesregierung hat das mit dem Ukraine-Konflikt und der Rolle Russlands darin begründet.

Sevim Dagdelen: Frau Merkel verweigert auf diese Weise den Angehörigen der Roten Armee ein würdiges Gedenken. Das ist ein Affront gegen jenes Land, das die Hauptlast des Zweiten Weltkrieges zu tragen und die meisten Opfer zu beklagen hatte. Man kann doch diese deutsche Aggression und den Sieg über den Faschismus vor 70 Jahren nicht mit dem Ukraine-Konflikt aufrechnen. Zumal in Kiew ein Regime mit deutscher Unterstützung an der Macht ist, das Nazi-Kollaborateure verherrlicht. Dieser neue Geschichtsrevisionismus, der versucht, die Geschichte antirussisch umzuschreiben, ist beschämend.

Sie gehören zu den Einbringern eines Antrags an den Bielefelder Parteitag der LINKEN, in dem es nicht zuletzt um den Ukrainekonflikt geht, die Verantwortung für die Eskalation aber vor allem der NATO zugewiesen wird. Warum so zurückhaltend mit Kritik an der Regierung in Moskau?

Sevim Dagdelen: Unser Antrag ist in dieser Frage nicht zurückhaltend. Auch Russland wird darin kritisiert, etwa wegen der einseitigen Unabhängigkeitserklärung der Krim. Aber unter dem Strich trägt der Westen für den Ukrainekrieg die hauptsächliche Verantwortung. Das sprechen wir deutlich aus, so wie US-Friedensforscher wie John J. Mearsheimer es auch tun. Äquidistanz ist angesichts der gefährlichen Lage nicht angebracht.

Kritik an dem Antrag kommt auch vom linken Flügel der Linkspartei. Man dürfe nicht, heißt es da, nach dem Motto »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« agieren. Die Administration in Moskau und der in Russland dominierende oligarchische Kapitalismustyp seien keine Alternative.

Sevim Dagdelen: Wir machen uns nachlesbar nicht für den russischen Oligarchenkapitalismus, sondern für eine Weltfriedenskonferenz stark. Über 1400 Unterzeichner unter unserem Aufruf, viele auch außerhalb der Partei, etwa aus der Friedensbewegung, zeigen eine große Zustimmung. Darin wird die Atlantikbrücke kritisiert und Widerstand gegen jene angekündigt, »die eine Kumpanei mit der US-Kriegspolitik eingehen«. Das hat Kritik hervorgerufen, die ich nicht verstehe. Wir müssen uns mit solchen Lobbyorganisationen und deren Einfluss auf deutsche Politik und Medien kritisch auseinander setzen. Wenn das nur noch Satiresendungen wie die »Anstalt« tun, wäre etwas völlig schief.

Der Antrag ist in der Form eines Offenen Briefes an Michail Gorbatschow eingebracht worden, der die von Ihnen genannte Weltfriedenskonferenz initiieren soll. Warum Gorbatschow, warum nicht zum Beispiel die UNO?

Sevim Dagdelen: Im UN-Sicherheitsrat geht nichts gegen den Willen der Veto-Macht USA. Schon deshalb ist eine Weltfriedenskonferenz unter Ägide der UN relativ unrealistisch. Gorbatschow ist dagegen hoch angesehen in großen Teilen der deutschen Bevölkerung und er hat sich zum Ukrainekrieg eindeutig geäußert: etwa mit Kritik an der NATO-Osterweiterung, mit Kritik am Bruch von Versprechen gegenüber Moskau, die im Zuge der Wiedervereinigung abgegeben wurden.

Haben Sie von Gorbatschow schon eine Reaktion auf den Offenen Brief erhalten?

Sevim Dagdelen: Nein, denn noch sammeln wir ja Unterschriften. Der Vorschlag einer Weltfriedenskonferenz hat aber viele Erwartungen geweckt. Wir freuen uns daher sehr, dass unsere Idee in den Leitantrag der Partei übernommen werden soll. Über die konkrete Umsetzung werden wir diskutieren. Auf jeden Fall ist es eine entscheidende Aufgabe der LINKEN, die Bundesregierung weiterhin unter Druck zu setzen, nicht gemeinsam mit einer aggressiven US-Kriegspolitik die Eskalation gegen Russland zu befördern. Wir brauchen Entspannung in Europa statt eines neuen Kalten Krieges.

Quelle: Neues Deutschland