Zeitreise

Deutsch-türkische Konsultationen

Von Sevim Dagdelen

Was einst dem deutschen Kaiser sein Osmanisches Reich, ist heute für Kanzlerin Merkel die Türkei. Wer sich in diesen Tagen die ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen anschaut, der kann sich auf einer Zeitreise wähnen. 1915 meldete die deutsche Militärzensur: »Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilig Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und später vorgeben, dass die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden.«

2016 braucht es keine Militärzensur mehr. Die Kanzlerin und ihr Außenminister haben die Schere im Kopf. So dringt kein böses Wort nach draußen, dass die Bundesregierung den türkischen Ministerpräsidenten auch nur leise angemahnt hätte, bei seinem angeblichen Antiterrorkampf nicht ganz so viele Kurden zu massakrieren. Im Gegenteil, die Regierungskonsultationen heben die bisher schon hervorragenden Beziehungen für Kapital und Militär für beide Seiten auf eine neue Stufe. Und in den Zeiten der »Flüchtlingskrise« ist die Türkei unter Präsident Erdogan für die Bundesregierung wichtiger denn je. Für drei Milliarden Euro soll sie Deutschland die syrischen Flüchtlinge vom Hals halten. Mit einer Geldspritze will man dem »kranken Mann am Bosporus« wieder auf die Beine helfen. Denn auch die Kasse des neuen Sultans ist leer, nachdem die türkische Außenpolitik es sich mit vielen Nachbarn in der Region und sogar mit Russland verdorben hat.

Die Türkei hat bereits durchblicken lassen, was sie mit den Flüchtlingen anzustellen gedenkt. Ohne lange zu fackeln, werden die ersten hundert ins Bürgerkriegsland Syrien abgeschoben, ohne dass sich ein deutscher Polizist die Finger schmutzig machen oder die Türkei sich eine Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention vorwerfen lassen muss – die hat Ankara ja nicht unterzeichnet. Erdogan ist der Mann fürs Grobe. Das wird in Berlin offenbar sehr geschätzt. Während Amnesty International der Türkei Kollektivstrafen gegen die Kurden vorwirft, werden in Berlin neue Geschäfte verabredet. Der deutsche Waffenexport läuft sowieso ungebrochen.

Historisch hat sich die Nibelungentreue des Kaisers nicht ausgezahlt. Das Osmanische Reich scheiterte an seinen imperialen Ambitionen. Und auch wenn die Bundesregierung nach dem Motto handelt, die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft müsse aufrechterhalten werden, selbst wenn die Kurden dabei zugrunde gehen, ist ein baldiges Ende nicht ausgeschlossen. Zu viele Fronten hat man zugleich eröffnet, sich zu viele Feinde zugleich gemacht.

Die Linke-Abgeordnete Sevim Dagdelen ist Vizevorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss

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