Zuflucht und Zukunft
Unterstützung für Verfolgte aus der Türkei: Die Linke fordert Hilfsfonds für geflüchtete Wissenschaftler, Journalisten und Politiker
Die Fraktion Die Linke im Bundestag hat mit der Konferenz »Quo vadis, Deutschland-Türkei?« am 27. März die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara auf den Prüfstand gestellt (siehe jW vom 29. März). Sevim Dagdelen, Sprecherin für internationale Beziehungen der Fraktion und Initiatorin der Veranstaltung, forderte aus diesem Anlass eine radikale Wende in der deutschen Türkei-Politik und praktische Hilfe.
Die deutsch-türkischen Beziehungen befinden sich in einer tiefen Krise. Es ist vielleicht die schwerste Krise in ihrer Geschichte. Die Beantwortung immer neuer Provokationen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan durch immer neue Beschwichtigungen, immer neue Dialogangebote oder gar symbolische Unterstützung und ein »Weiter-so« hat die Schieflage noch verstärkt.
Das gilt besonders für den EU-Beitrittsprozess. Noch Ende 2015, also nachdem Erdogan seinen Krieg gegen die Kurden begonnen und versucht hatte, mit einer Strategie der Spannung eine Mehrheit für seine Partei, die AKP, zu erzielen, öffnete die EU zwei neue Beitrittskapitel, um den EU-Beitritt zu beschleunigen. Erdogan musste also davon ausgehen, dass selbst schlimmsten Menschenrechtsverletzungen mit verstärktem Wohlwollen begegnet werden würde. Und es mutet aus heutiger Sicht sicherlich geradezu unwirklich an, dass sogar nach der blutigen Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013 drei neue EU-Beitrittskapitel eröffnet worden waren.
Es war ein großes Missverständnis der deutschen, aber auch der EU-Politik seit dem Amtsantritt der AKP, wenn es denn je wirklich ein Missverständnis gewesen ist, dass man glaubte, Erdogan und die Seinen seien an Demokratie und Rechtsstaat interessiert. Tatsächlich ging es Erdogan immer nur um eine Beseitigung der alten Eliten auf dem Weg zur absoluten Macht. Dafür brauchte er die Unterstützung aus Berlin, Brüssel und Washington – und er hat sie bekommen.
Es ist heute für alle offenkundig, dass diese Politik komplett gescheitert ist – zum einen, weil sie mit einer totalen Absage an Demokratie und Menschenrechte verbunden ist. Aber auch, weil sie einem skrupellosen Partner wie Erdogan, der immer brutaler versucht, Eigeninteressen zu bedienen, nie wirklich gewachsen war. Weder auf der Ebene der Analyse noch auf der Ebene der diplomatischen Entgegnung. Ein Paradebeispiel ist der Umgang mit Erdogan als Förderer islamistischen Terrors: Die deutsche Außenpolitik sah lange in islamistischen Terrorbanden in Syrien kein wirkliches Problem. Erst im September 2014 wurde in Deutschland der »Islamische Staat« (IS) verboten. Die Bundesregierung setzte auf die Türkei als Ordnungsmacht in der Region – auch als sich die Hinweise mehrten, dass Erdogan die Terrormilizen des IS, von Al-Qaida und Ahrar Al-Scham in Syrien und im Irak bewaffnet und unterstützt.
Notwendige Schlüsse
Im vergangenen Sommer hat die Bundesregierung schließlich konstatiert, dass die Türkei unter Erdogan zu einer »zentralen Aktionsplattform« für den islamistischen Terror geworden ist. Passiert ist nichts. Die Bundesregierung ist gefordert, ihre eigene Analyse ernst zu nehmen und endlich die notwendigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Das gilt für die Außenpolitik, aber in ebenso dringendem Maße für die deutsche Innenpolitik. Mehrere Punkte sind zentral für eine demokratische Wende in den Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei:
– Die Bundesregierung muss akzeptieren, dass jemand, der mit Terror droht und mit Terrorunterstützung Politik macht, kein Partner sein kann. Das bedeutet: ja zum Dialog, aber keine weitere Beschwichtigung, keine diplomatischen Aufwertungen des Terrorpaten Erdogan.
– Die EU darf keine Beitrittsverhandlungen mit einer Diktatur führen. Der Beitrittsprozess mit der Türkei muss umgehend beendet werden. Die jährlich 630 Millionen Euro Vorbeitrittshilfen an Erdogan sind einzustellen.
– Die Militärpartnerschaft mit der Türkei innerhalb der NATO ist zu beenden. Dazu gehören ein sofortiger Stopp der Rüstungsexporte in die Türkei wie auch die Beendigung der Bundeswehreinsätze in Konya und Incirlik. Weder Erdogans Krieg gegen die Kurden noch seine Aufrüstung islamistischer Terrormilizen darf die Bundesregierung weiter unterstützen.
– Der Merkel-Erdogan-Pakt, mit dem sich die Bundesregierung neben ihren geopolitischen Interessen derart erpressbar gemacht hat, ist zu kündigen. Statt Fluchtursachen durch diesen Pakt zu fördern und Flüchtlinge zu bekämpfen, muss es eine konkrete Unterstützungspolitik für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und andere humanitäre Organisationen geben, die auch wirklich bei den Flüchtlingen ankommt und ihnen eine Perspektive schafft.
– Wirtschaftliche Begünstigungen des Erdogan-Regimes sind zu unterlassen. Dazu gehören auch alle Pläne für eine Erweiterung der Zollunion, die vor allem Erdogan und den Seinen zugute kommt. Wirtschaftssanktionen, gerade auch im Tourismussektor, sind abzulehnen, da sie allein die Bevölkerung treffen.
– Erdogans Netzwerk in Deutschland muss zerschlagen werden. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden müssen sich stärker den zahlreichen kriminellen Machenschaften dieses Netzwerkes widmen – angefangen von den Bedrohungen durch türkische Schlägertrupps bis hin zur systematischen Bespitzelung durch Imame des türkisch-muslimischen Dachverbands DITIB. Insbesondere das Agentennetz von bis zu 6.000 Personen in Deutschland ist zu zerstören, denn es gefährdet massiv Demokratie und den inneren Frieden in Deutschland.
– Rechtsextreme türkische Organisationen, seien sie faschistischer oder islamistischer Provenienz, dürfen die Bundesrepublik nicht weiter für ihre Pro-Erdogan-Propaganda nutzen können. Mit Moscheeverbänden, die Andersdenkende einzuschüchtern versuchen und einen islamistischen Unterdrückungsstaat in der Türkei propagieren, muss jede staatliche Kooperation beendet werden.
– Alle Wünsche seitens der türkischen Regierung, in Deutschland Erdogans Krieg gegen die Kurden fortzusetzen, wie sie etwa in den Verbotsverordnungen des Bundesinnenministeriums gegenüber Kennzeichen der syrischen Volksverteidigungsmilizen YPG zum Ausdruck kommen, sind umgehend zurückzuweisen. Es kann nicht angehen, dass auf der einen Seite islamistische Terrorgruppen wie Ahrar Al-Scham keinerlei Verbotsverfügung unterliegen, aber auf der anderen Seite von der Bundesregierung versucht wird, eine Organisation zu kriminalisieren, deren Kämpfer sich den Barbaren des IS in Syrien tapfer entgegenstellen und die dabei von den USA und Russland unterstützt wird. Mit einer Diktatur darf es keine sicherheitspolitische Kooperation etwa auf der Ebene von Polizei und Geheimdiensten geben.
Statt eines Paktes mit Erdogan, statt eines Paktes mit einer Diktatur, bedarf es eines Paktes für Demokratie und Menschenrechte. Das heißt nicht, Erdogans Bruch mit den Prinzipien von Demokratie und Souveränität zu kopieren und nach einem Regime-Change in Ankara zu rufen. Was in der Türkei passiert, entscheidet die dortige Bevölkerung. Erdogans Diktatur ist nicht für die Ewigkeit gebaut.
Flucht vor Diktatur
Was ist zu tun, um der anderen Türkei eine Stimme zu geben? 1933 bis 1945 war die Türkei eine Zufluchtsstätte für viele deutsche Wissenschaftler, die von der Nazidiktatur wegen ihrer Herkunft oder auch ihrer politischen Orientierung verfolgt und durch Entlassung aus den Universitäten jeder Möglichkeit der wissenschaftlichen Tätigkeit beraubt worden waren. Es waren Menschen wie der Finanzwissenschaftler Fritz Neumark, der Komponist Paul Hindemith oder der Architekt Bruno Taut. Es waren Menschen wie die Literaturwissenschaftlerin Liselotte Diekmann, die Dermatologin Berta Ottenstein oder die Psychoanalytikerin Edith Weigert. Und nicht zu vergessen Ernst Reuter, der spätere Berliner Bürgermeister.
Auch viele der Menschen, die heute aus der Türkei nach Deutschland fliehen, sind Wissenschaftler, Journalisten, Intellektuelle oder Politiker. Sie kämpfen hier um eine Perspektive und stehen häufig vor dem Nichts. Wir haben die Pflicht und Schuldigkeit, sie zu unterstützen in ihrem Kampf um Anerkennung und in ihrem Widerstand gegen eine Diktatur, die auch vor einer Verfolgung in Europa nicht haltmacht. Wir dürfen diese Menschen nicht alleine lassen, auch weil sie es sind, die Brücken bauen zwischen unseren Gesellschaften.
Und deshalb fordert Die Linke die Bundesregierung auf, einen öffentlichen Unterstützungsfonds für politisch Verfolgte aus der Türkei einzurichten. Es wäre nichts anderes, als einen Teil dessen zurückzugeben, was die türkische Bevölkerung seinerzeit den vor der Nazidiktatur Geflüchteten gegeben hat. Es wäre eine Investition in die Zukunft, in die Demokratie, in gute deutsch-türkische Beziehungen.