Zum Völkermord an den Armeniern vor 99 Jahren
Vor wenigen Tagen, am 24. April 2014 jährte sich der Völkermord an den Armeniern. 99 Jahre ist es her, dass mit der Deportation armenischer Politiker und Intellektueller aus Istanbul, auf Befehl des osmanischen Innenministers Mehmet Talat, diese grausame Tat begonnen wurde. Wir gedenken heute hier all der 1,5 Millionen Opfer dieses schrecklichen Verbrechens und verneigen uns vor ihnen in stiller Trauer.
Fast hundert Jahre sind vergangen seit jenem Tag. Kaum einer kennt noch die Namen der Deportierten. Haben wir je etwas von dem Schriftsteller Rupen Zartarian aus Diyarbakir, dem Dichter Yeruhan aus Istanbul oder dem Romanautor Dikran Chökürian aus Gümüşhane gehört. Sie alle wurden auf schändliche Art und Weise ermordet. Ja, man kann sagen, mit ihnen wurde auch ein Teil der Kultur des Osmanischen Reiches, ein Teil der Kultur der Welt ausgelöscht.
Wer erinnert sich noch an die 20 zumeist junge Aktivisten der Sozialdemokratischen Huntschak-Partei, die im Zuge des Völkermords an den Armeniern am 15. Juni 1915 im Stadtteil Sultanbeyazid in Istanbul durch Erhängen hingerichtet wurden. Wer weiß heute noch, dass diese Huntschak-Partei die erste sozialistische Partei im Osmanischen Reich war. Dass es ihre Aktivisten waren, die zum ersten Mal das Kommunistische Manifest am Bosporus herausgegeben haben.
Wenn wir heute des Völkermords an den Armeniern gedenken, geht es auch um eine Wiedergewinnung der Erinnerung an die Verschwundenen, eine Erinnerung an die Ausgelöschten. Eine Erinnerung an die in der Kemah-Schlucht-Ermordeten oder in der Wüste des heutigen Syriens zu Tode gebrachten. Diese Erinnerung ist so schwer, weil von Beginn an alles getan wurde, um diese unvorstellbare Tat vergessen zu machen. Es sollte eben nicht nur die Erinnerung an die Ermordeten ausgelöscht werden, sondern auch, durch eine Beseitigung aller Namen oder kulturellen Erzeugnisse, die sie hinterlassen hatten, auch jedes steingewordene Dokument ihrer gewesenen Existenz. So wie ich es aus Erzählungen meines verstorbenen Vaters erfahren habe, dass im Dorf meiner Eltern, in der Provinz Erzincan, einst eine armenische Kirche stand. An ihrer Stelle ist heute die Dorfschule. Kein Stein ist dort mehr zu sehen. Die früher gleich neben dem alevitischen Friedhof gelegene armenische Grabstätte gibt es auch nicht mehr.
Sehr verehrte Anwesende,
ich habe lange über die Einladung des Armenisch-Akademischen Vereins, die heutige Gedenkrede zu halten, nachgedacht und mit mir gerungen. Nicht, weil ich befürchtete, neuen Schmähreden von Seiten türkischer Nationalisten ausgesetzt zu sein. Nein, diese bin ich gewohnt, wie die Beschimpfungen von Nazis oder die rassistischen Zuschriften von Rechten, die mich als türkische Politikerin titulieren. Ich habe damit gerungen, wegen der großen Verantwortung, dass aus diesem Gedenken, dieser Erinnerung nicht neuer Hass und der Geist der Revanche, sondern Versöhnung und eine gemeinsame Zukunft erwachsen soll.
Heute hier zu ihnen zu sprechen hat mich ein Posting auf meiner Facebook-Seite bewogen, dass ich als Antwort auf meinen Trauereintrag am 11. März 2014 zum Tode von Berkin Elvan, einem 15 jährigen Jungen, der in Folge des Polizeiterrors gegen die Gezi-Proteste nach 269 Tagen Koma in der Türkei gestorben ist, gemacht hatte. Ein Tränengasgeschoss aus nächster Nähe hatte den Unbeteiligten am Hinterkopf getroffen. Er wollte für seine Familie Brot holen. Das AKP-Regime verweigert jede Aufklärung und stellt sich schützend vor den Polizeiterror! Darauf hatte ich folgenden Kommentar einer Gülcan Z Olur erhalten: „Sie sind Hetzerin und Lügnerin erste Klasse, der Vater ist ein Terrorist und der Sohn eben so . Er hat für ihre dreckige Ziele den eigenen Sohn missbraucht. Es gibt beweise das er an dem Tag mittendrin war aktif gegen Polizei war Also Sevim Dagdelen nix Brot holen nix unschuldig wie sie hier sagen. Naja er ist ja wie du Armenier ihr müsst ja zusammen halten nicht war."
Mich hat dieser Satz „Naja er ist wie du Armenier ihr müsst ja zusammen halten nicht war." einigermaßen verwundert. Ich bin nicht armenischer Herkunft, auch im Internet gibt es keinen solchen Verweis. Aber offenbar funktioniert immer noch die Gleichung, Terrorist gleich Armenier, und wer diese Terroristen verteidigt und auch noch auf Aufklärung dringt, der muss auch ein Armenier sein und steckt natürlich mit allen anderen Armeniern unter einer Decke. Und weiter, die Armenier haben sich ihren Tod selbst zuzuschreiben, weil sie Terroristen sind. Und es ist diese Gleichung, die das Denken der Affirmierung des Völkermords an den Armeniern widerspiegelt. Dieses Völkermorddenken wird wach gehalten in Teilen der türkischen Gesellschaft durch ein ungeheures propagandistisches Trommelfeuer. Ziel ist es, die Zustimmung von großen Teilen der Bevölkerung zu einem Unterdrückungssystem par exellence zu erzielen. Und gerade deshalb ist Aufklärung so wichtig. Und gerade deshalb habe ich mich entschieden, heute hier zu ihnen zu sprechen.
Sehr verehrte Anwesende,
auch fast hundert Jahre nach den schrecklichen Massakern und Verfolgungen, wird der Völkermord an den Armeniern von der türkischen Regierung immer noch bestritten. Ich werde später noch darauf zu sprechen kommen, warum auch die erstmalige Äußerung eines türkischen Regierungschefs zum 24. April daran nichts ändert.Aber auch die Bundesregierung versucht weiterhin, die deutsche Mitverantwortung für den Völkermord zu relativieren. Das eigentliche Ausmaß, nicht nur des Völkermords aber auch der Beihilfe der deutschen Militärs und Politiker, ist in der deutschen Öffentlichkeit weithin unbekannt. Der Bundestag hatte sich in seiner Entschließung zur Erinnerung an die Vertreibung und Massaker an den Armeniern von 2005 um die ganze Wahrheit herumgedrückt. Darin heißt es: "Der Bundestag bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen." Die historische Wahrheit lässt aber eine Festlegung der Rolle des Kaiserreiches auf eine unterlassene Hilfeleistung nicht zu. Mit Blick auf die mörderische Waffenbrüderschaft zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg hatte denn die deutsche Seite alles getan, um den Völkermord zu decken.1915 hatte Reichskanzler Bethmann-Holweg gegenüber österreichischen Bedenken geantwortet: "Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht." Daraus wird ersichtlich, dass Deutschland bereit war, den Völkermord zu billigen. Wichtig war allein die Waffenbrüderschaft mit dem Osmanischen Reich. Als Beispiel sei nur General Fritz Bronsart von Schellendorf, Chef des Generalstabs im Großen Hauptquartier in Istanbul und damit oberster Kriegsplaner direkt nach dem Kriegsminister Enver Pascha, genannt. Bronsart von Schellendorf befürwortete nicht nur die Deportation der Armenier aus militärischer Notwendigkeit, sondern äußerte sich auch nach dem Krieg in übelster Form über die armenische Minderheit. In einem Brief von 1921 an das Auswärtige Amt schrieb er: "Der Armenier ist nämlich, wie der Jude, außerhalb seiner engeren Heimat ein Parasit, der sich von dem Marke des Fremdvolkes mästet, unter dem er seinen Wohnsitz aufschlägt. Alljährlich wandern zahlreiche Armenier aus ihrem Stammlande nach Kurdistan, um nach kurzer Zeit ganze kurdische Dörfer zu bewuchern und sich dienstbar zu machen. Daher der Hass, der sich oft in ganz mittelalterlicher Weise durch den Mord missliebig gewordener Armenier entladen hat." Dazu taten 800 deutsche Offiziere und 25000 Soldaten im Osmanischen Reich Dienst, die sich auch aktiv am Völkermord an den Armeniern beteiligten.
Diese Mitverantwortung Deutschlands zeigt sich auch in der Beantwortung der Kleinen Anfragen des späteren KPD-Gründers und damaligen USPD-Abgeordneten Karl Liebknecht im Januar 1916 im Reichstag. Liebknecht hatte als einziger Angeordneter im Dezember 1914 gegen die Kriegskredite gestimmt und trat mit seinen Anfragen, dem einzig verbliebenem parlamentarischen Instrument, dass ihm ohne Zustimmung seiner ehemaligen SPD-Fraktion möglich war, im Reichstag auf, um die imperialistische Politik des Kaiserreichs zu beleuchten. Der Anfrage Liebknechts zu den Massakern an den Armeniern folgte denn auch seine Anfrage zu weiteren Kriegsverbrechen, zu deutschen Kriegsverbrechen an Zivilisten in den besetzten Ländern wie Belgien.Liebknecht fragte: „Ist dem Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu hunderttausenden vertrieben und niedergemacht worden ist? Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Greuel zu verhindern?" Darauf antwortete Dr. v. Stumm, Kaiserlicher Gesandter, Dirigent der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Kommissar des Bundesrats: "Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, daß die Pforte vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlaßt, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahmen findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden." Liebknecht versuchte eine Ergänzungsfrage nachzuschieben: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen …" Diese wurde, ohne dass Liebknecht überhaupt zu Ende sprechen konnte, unter Beifall des Reichstags vom Präsidenten unterbunden. Nicht einmal die Frage sollte also gestellt werden können.Zu sehr war man sich einig, diese Verbrechen verschweigen zu müssen. Liebknecht erklärte im Nachhinein seine Handlungsstrategie wie folgt: „Die türkische Regierung hat ein furchtbares Gemetzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß davon – und in aller Welt macht man Deutschland verantwortlich, weil die in Konstantinopel die deutschen Offiziere die Regierung kommandieren. Nur in Deutschland weiß man nichts, weil die Presse geknebelt ist."
Das Vorgehen des Kaiserreichs war, wie gesagt, symptomatisch für spätere Vorgehensweisen, den Völkermord an den Armeniern zu leugnen bzw. zu relativieren. Wie Richard Albrecht recherchierte gab es im offiziellen „amtlichen Zensurbuch" des Kaiserreichs die „armenische Frage" betreffend, im Herbst/Winter 1915 zwei zentrale Hinweise. Erstens am 7.10.1915 zu Armenien mit der Anweisung: „Veröffentlichungen über die armenische Frage unterliegen der Vorzensur":„Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilig Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muß man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und später vorgeben, daß die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden." Zweitens am 23. 12. 1915 zur Türkei: „Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen. Besonders löblich ist das Verhalten der türkischen Machthaben in dieser Frage nicht! […] Alle Ausführungen, die das Ansehen unserer türkischen Bundesgenossen irgendwie herabsetzen könnten, müssen vermieden werden […] Aufsätze über die armenische Frage unterliegen der Vorzensur." Festzuhalten ist, die Waffenbrüderschaft zwischen dem Kaiserreich und Osmanischen Reich bestand nicht nur im Hinblick auf den Völkermord an den Armeniern, sondern auch im Hinblick auf seine spätere Leugnung und Relativierung.
Werte Anwesende,
der türkische Ministerpräsident Recep Tayip Erdogan hat sich als erster türkischer Ministerpräsident zum 24. April geäußert. Das scheint auf den ersten Blick ein positiver Schritt zu sein. Wenn wir uns aber seine Erklärung genau anschauen, passt sie in eine Kontinuität des Relativierens und Leugnens des Völkermords an den Armeniern. Insofern ist auch die umgehende Begrüßung des US-Außenministeriums äußerst fragwürdig. Warum Erdogan diese Erklärung zum jetzigen Zeitpunkt abgegeben hat, sei es, dass er grünes Licht aus Berlin und Washington für seine Präsidentschaftskandidatur befördern wollte. Sei es, dass er wegen der Angriffe islamistischer Milizen von türkischem Boden aus auf armenische Dörfer in Syrien gerade aus den USA unter Druck war, hier wenigstens symbolisch einen anderen Akzent zu setzen, zu einem Zeitpunkt wo der US-Senat droht diese Angriffe zu untersuchen. Das alles sei dahingestellt. Darüber ließe sich trefflich spekulieren. Hier soll es jetzt aber lediglich um den bloßen Text der Erdogan-Erklärung gehen, die in neun Sprachen zeitgleich veröffentlicht wurde. Fakt ist, dass Erdogan den Völkermord an den Armeniern nicht anerkennt.Die Erklärung beginnt mit den Worten: „Der 24. April, der für unsere armenischen Bürger und die Armenier weltweit eine besondere Bedeutung hat, stellt im Hinblick auf die freie Äußerung von Gedanken zu diesem geschichtlichen Thema eine wertvolle Gelegenheit dar." Der Beginn des Völkermords hat also lediglich „für unsere armenischen Bürger und die Armenier weltweit eine besondere Bedeutung". Damit wird die Bedeutung für alle anderen türkischen Bürgerinnen und Bürger relativiert.
In der Folge dann weist Erdogan darauf hin, dass alle gelitten haben. Auch dies eine Relativierung.Dann heißt es „Die pluralistische Sichtweise, die demokratische Kultur und die Moderne erfordern, dass in der Türkei unterschiedliche Meinungen und Gedanken zu den Ereignissen von 1915 frei geäußert werden. Es kann auch Stimmen geben, die diese freie Atmosphäre in der Türkei als eine Gelegenheit betrachten, beschuldigende, verletzende oder bisweilen gar hetzerische Aussagen und Behauptungen kundzutun." Hier läuft ein Subtext, mit der die Behauptung, es gäbe einen Völkermord an den Armeniern, als „hetzerische Aussage" gebrandmarkt wird. In dieselbe Richtung weist die Passage: „Jedoch ist es inakzeptabel, dass die Ereignisse von 1915 als ein Vorwand für eine Anfeindung gegenüber der Türkei benutzt und zu einem politischen Streitthema stilisiert werden."
Auch hier spricht Erdogan ausdrücklich die Völkermordleugner an. Um dann selbst ausdrücklich den Völkermord zu leugnen mit: „Ereignisse mit unmenschlichen Folgen, wie Umsiedlungen, bei denen während des Ersten Weltkriegs Millionen von Menschen aller Religionen und Volksgruppen ihr Leben ließen, sollten kein Hindernis dafür darstellen, dass zwischen Türken und Armeniern Empathie aufgebaut wird und sie sich gegenseitig menschlich verhalten und begegnen."Der Völkermord wird als eine Umsiedlung mit „unmenschlichen Folgen" dargestellt. Diese Position jedenfalls findet sich von Anfang an als Teil einer Desinformationskampagne, um dieses ungeheuerliche Verbrechen zu decken. Insofern ist es auch in derselben Logik, dass Erdogan noch einmal auf die Arbeit der armenisch-türkischen Historikerkommission verweist.
Werte Anwesende, nicht die Wiederholung der Umsiedlungsmythen zur Verschleierung des Völkermords, sondern nur eine aufrichtige Anerkennung und Aufklärung kann den Weg zur Versöhnung und einer gemeinsamen Zukunft bahnen. Wir hier in Deutschland haben, was den Völkermord an den Armeniern angeht und die Aufklärung und Anerkennung über die deutsche Mitverantwortung angeht noch einen weiten Weg zu gehen. Aber auch für die konkrete Politik wurden daraus bisher noch keine Folgerungen gezogen. Für mich, erlauben Sie mir diese Bemerkung zum Abschluss, würde dies auch bedeuten, keine weiteren deutschen Rüstungsexporte zu tätigen als eine der Lehren dieses imperialistischen Verbrechens. Es würde bedeuten, dass wir gerade angesichts der Angriffe auf kurdische Enklaven, auf Kesab und die anderen armenischen Dörfern in Syrien durch islamistische Milizen, die auch von der Türkei aus angreifen, die Waffenbrüderschaft mit dem Erdogan-Regime beenden und die Bundeswehr aus der Türkei abziehen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!