Handeln statt reden
Deutschland muss seine Türkei-Politik ändern. Die Regierung sollte die Partnerschaft mit Erdogan beenden.
Von Sevim Dagdelen
Die Lage in der Türkei ist dramatisch. In immer schnelleren Schritten betreibt Präsident Recep Tayyip Erdogan die Gleichschaltung des Landes. Er vollendet eine Entwicklung, die lange vor dem Putschversuch des 15. Juli 2016 begonnen hat. Für sein Regime ist die Gelegenheit gekommen, eine Entlassungs- und Verhaftungsliste nach der anderen abzuarbeiten. Journalisten und Oppositionspolitiker werden systematisch verhaftet, kritische Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen.
In dieser Situation setzt die Bundesregierung fatalerweise auf ein „Weiter-so“ ihrer gescheiterten Türkei-Politik. Sie ist besorgt, sehr besorgt oder gar alarmiert – allein, sie handelt nicht. Im Gegenteil: Bei seinem Besuch in Ankara ließ sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier vom Erdogan-Regime regelrecht vorführen. Es wurde deutlich, dass die türkische Seite keinerlei Interesse an einem Dialog auf Augenhöhe hat. Dagegen nutzen Erdogan und seine Minister jede Gelegenheit, um Politik nach Mafiaart in Szene zu setzen. Während Erdogan die Türkei zu einer „zentralen Aktionsplattform“ islamistischen Terrors in der Region umgebaut hat, so zumindest der Befund der Bundesregierung, sucht er alle diesbezüglichen Vorwürfe mit Gegenvorwürfen zu kontern.
Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik. Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen lief die deutsche Türkei-Politik immer nach demselben Muster ab. Je stärker die regierende AKP auf eine Politik der Gewalt setzte, wie etwa bei der Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013, desto mehr setzte man sich in Berlin für die weitere Öffnung von EU-Beitrittskapiteln ein. Erdogan konnte immer damit rechnen, dass jedes seiner Verbrechen lediglich zu einer neuen Forderung nach mehr Dialog und intensiveren Beitrittsverhandlungen führte. Mit dem Flüchtlingsabkommen akzentuierte sich diese Politik noch einmal.
Um den offensichtlichen Handlungsdruck abzuwehren, wird jetzt oft seufzend gefragt. Ja was kann man denn schon tun? Oder auch: Treiben wir denn nicht die Türkei noch weiter weg als bisher, wenn wir die Beitrittsverhandlungen jetzt stoppen? Gegen diese Art des voluntaristischen Politikdefätismus müssen wir uns zur Wehr setzen. Alles deutet darauf hin, dass das Europäische Parlament sich endlich die Forderung der Linken nach einem Stopp der Beitrittsverhandlungen zu eigen macht. Es braucht jetzt ein ganzes Maßnahmenpaket, um deutlich zu machen, dass man nicht weiter für eine Premiumpartnerschaft zur Verfügung steht.
Es ist in diesem Zusammenhang unerträglich, dass die Türkei im ersten Halbjahr 2016 von Platz 25 auf Platz 8 der Bestimmungsländer deutscher Rüstungsexporte aufgerückt ist. Die fortgesetzte Lieferung von Waffen an die Türkei gefährdet Frieden und Sicherheit in der gesamten Region. Denn die Türkei führt ja nicht nur im eigenen Land einen erbarmungslosen Feldzug gegen die Kurden, sondern steht mit Truppen mittlerweile im Irak und in Syrien. Die Bundeswehr, die nach dem Willen von Union und SPD weiter auf dem türkischen Stützpunkt in Incirlik stationiert bleibt und zusätzlich noch durch einen Awacs-Einsatz der Nato Verstärkung erhält, stabilisiert das Regime Erdogans.
Der türkische Außenminister Mevsüt Cavusoglu bekundete, dass die in der Türkei stationierten deutschen Tornado-Flugzeuge „einen sehr großen Beitrag nicht nur im Kampf gegen den ,IS‘ leisten, sondern auch bei der Bekämpfung des Terrorismus insgesamt“. Damit räumte er indirekt ein, dass die von deutschen Tornados erhobenen Aufklärungsdaten von der Türkei für den Kampf gegen die Kurden und zur Unterstützung islamistischer Terrormilizen in der Region eingesetzt werden. Der Abzug der Bundeswehr wäre ein deutliches Zeichen an Erdogan, dass die Bundesregierung nicht mehr gewillt ist, seine Gewaltpolitik weiter zu unterstützen.
Es muss zudem klar sein: Angesichts der Entwicklungen in der Türkei verbieten sich jede Art der Hilfszahlung, wie die 630 Millionen an Vorbeitrittshilfen jährlich oder neue Vergünstigungen im Rahmen der Zollunion. Es kann einen nur Grausen, dass auf dem Gipfel der Europäischen Union (EU) im Dezember über neue Vergünstigungen im Rahmen der Zollunion entschieden werden soll.
Wer solche Signale aussendet, muss sich nicht wundern, dass Erdogan sie als Ermutigung für sein Vorgehen versteht. Es ist in jedem Falle Zeit für eine radikale Wende in der deutschen und europäischen Türkei-Politik. Gerade die immer neuen Unterwerfungsgesten der Bundesregierung von der Entschuldigung im Fall Böhmermann über die Relativierung der Armenien-Resolution bis zur peinlichen Protokollnotiz, was das Besuchsrecht für deutsche Abgeordnete bei der Bundeswehr in der Türkei angeht, haben dazu beigetragen, dass Erdogan glaubte und glaubt, mit seiner Art der mafiosen Diplomatie fortfahren zu können.
Wirtschaftssanktionen sind abzulehnen, denn wie im Fall von Syrien treffen sie allein die Bevölkerung. Aber über eine gezielte Strafverfolgung von Erdogan und seinen Familienmitgliedern, die vom Ölschmuggel mit dem IS offenbar erheblich profitiert haben, sollte nachgedacht werden. Solidarität mit der verfolgten Opposition in der Türkei ist dringend geboten. Zu dieser Solidarität gehört, die Partnerschaft mit Erdogan zu kündigen.
Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke im Bundestag und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Im Westend-Verlag ist von ihr gerade das Buch „Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft“ erschienen.
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