„Man hat uns zur Zielscheibe gemacht“

Auf Anfrage der Linken sollte die Bundesregierung am Donnerstag (09.06.2016) erläutern, wie sie sich zur Bedrohung von Bundestagsabgeordneten in Folge der Armenien-Debatte verhält. Seit Deutschland den Mord an 1,5 Millionen Armeniern als Völkermord bezeichnet, müssen vor allem türkischstämmige Abgeordnete womöglich um ihr Leben fürchten.
Nach den deutlichen Worten von Bundestagspräsident Norbert Lammert zu den verbalen Angriffen aus der Türkei hat die Linke ihren Antrag allerdings zurück gezogen. Lammert hat sich demonstrativ hinter die türkischstämmigen Abgeordneten gestellt und die Beschimpfungen des türkischen Präsidenten Erdogan als inakzeptabel bezeichnet.
Sevim Dagdelen sitzt für die Linkspartei im Bundestag und berichtet im Interview von den Drohungen gegen sie und ihre Familie.
WDR 5: Ihr Steckbrief ist nach der Resolution in einigen regierungstreuen türkischen Zeitungen aufgetaucht, samt Angaben zu Ihren Kindern. Wie war Ihre erste Reaktion darauf?
Sevim Dagdelen: Ich war natürlich schockiert. Ich bin es gewohnt, Hasspost zu bekommen – Anfeindungen, Beschimpfungen, Anschläge auf mein Wahlkreisbüro mehrheitlich von deutschen Nazis mit Hakenkreuz-Schmierereien. Seit meiner Kritik an der Aufkündigung des Friedensprozesses mit den Kurden des türkischen Staatspräsidenten Erdogan im letzten Jahr gibt es auch mehr Anfeindungen von Nationalisten.
Aber dass jetzt zum Beispiel die Kinder in solchen Fahndungsbildern miterwähnt werden, dass mir empfohlen wird, Urlaub in Buchenwald zu machen, dass mir mitgeteilt wird, es sei ein Kopfgeld auf mich und meine Familie ausgesetzt worden… Und dass sich in diesen ganzen Hassmails Antisemitismus, rassistischer Hass auf Armenier, sexistische Gewaltfantasien und nationalistische Großmannssucht so mischt, das ist schon sehr erschreckend. Dadurch dass ein enger Partner, ein EU-Beitrittskandidat, ein NATO-Mitgliedsstaat, die oberste Führung des Landes, der Staatspräsident, der Justizminister – alle uns jetzt an den Pranger stellen und zur Zielscheibe markieren, das hat eine neue Qualität.
WDR 5: Haben Sie denn den Eindruck, die deutschen Behörden haben diese geänderte, ernstere Lage erkannt? Fühlen Sie sich beschützt?
Dagdelen: Ich persönlich finde im Moment, dass die deutschen Sicherheitsbehörden den Ernst der Lage offensichtlich nicht gesehen haben. Es wird typischerweise nur geguckt, was man für individuelle Post in Briefform, in Papierform bekommt. Aber die Enthemmung, zum Beispiel in den sozialen Netzwerken, das wird nicht gesehen. Ich glaube, dass die Sicherheitsbehörden nicht begriffen haben, dass es eine Methode ist, vor allem der türkischen Regierung. Sie gehen mit kritischen Journalisten, mit kurdischen Politikern ja genauso vor, was meinem Freund Can Dündar, regierungskritischer Journalist der Tageszeitung „Cumhuriyet“, ein Attentatsversuch vor dem Gerichtsgebäude beschert hat. Oder es werden Rechtsanwälte auf offener Straße in der Türkei erschossen, nachdem sie von der türkischen Regierungsspitze aus als Zielscheibe markiert worden sind und der Mob gegen sie aufgehetzt wurde. Das, so glaube ich, ist hier bei den Sicherheitsbehörden noch gar nicht angekommen, warum und wieso und welche Folgen so etwas haben kann.
WDR 5: Verstehe ich Sie richtig, Frau Dagdelen, Sie sehen das, was jetzt geschieht, als Teil einer Art Kampagne, also eines systematischen Geschehens?
Dagedelen: Ja, selbstverständlich. Der türkische Justizminister hat uns am Tag der Resolution des Bundestages schon als Vaterlandsverräter bezeichnet, als Menschen mit verunreinigtem Blut, als Menschen, denen man die Einreise verweigern sollte. Das ist alles mit einer faschistischen Diktion versehen. Auch der Staatspräsident hat ja gesagt, unser Blut müsste im Labor untersucht werden. Ich weiß, dass mein Blut rot ist, ich weiß nicht, was bei ihm der Fall ist. Das ist die Methode in der Türkei, Kritiker mundtot zu machen, sie einzuschüchtern und vor allen Dingen den Mob gegen sie aufzuhetzen. Genauso hat es auch funktioniert. Nachdem man uns zur Zielscheibe gemacht hat, sind diese Gewalt- und Morddrohungen eminent gewachsen.
WDR 5: Was wünschen Sie sich insofern von der Bundesregierung und in der Folge auch vom Parlament heute?
Dagdelen: Unser Ziel ist es, deshalb haben wir die Aktuelle Stunde beantragt, dass die Bundesregierung eine klare Haltung zeigt. Das was Frau Merkel da wieder von sich gegeben hat, ist absolut beschämend. Sie meinte, das wäre nicht nachvollziehbar. Ich halte eine Rechnung für nicht nachvollziehbar, bei der sieben plus zwei im Ergebnis auf einmal 15 ist. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Aber dass hier mit einer faschistischen Diktion Mitglieder des Deutschen Bundestages vom türkischen Staatspräsidenten angegriffen werden, attackiert werden, dass eine Klage gegen uns vorbereitet wird, dass es einen Aktionsplan von der türkischen Regierung geben soll gegen den Bundestag – das finde ich muss jetzt zurückgewiesen werden. Die Beitrittsverhandlungen müssen gestoppt werden. Und man muss auch diesen schäbigen Flüchtlingsdeal absagen, den die Kanzlerin hier zu retten versucht und deshalb ja auch vor dem Staatspräsidenten Erdogan kuscht. Sie hat uns ja damit erpressbar gemacht.
Wir wünschen uns als Linksfraktion, dass der Bundestag auch im Namen aller Fraktionen heute ein klares Zeichen setzt. Das ist bisher ausgeblieben.
WDR 5: Frau Dagdelen, haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht, persönlich Konsequenzen zu ziehen, etwa Ihr Mandat niederzulegen?
Dagdelen: Nein. Ich halte mich in keiner Weise zurück mit meiner Kritik – an den faschistischen Praktiken und der terroristischen Politik der türkischen Regierung. Ich bin von den Menschen hier gewählt worden. Ich bin keine türkischstämmige Abgeordnete, ich bin deutsche Abgeordnete. Ich bin Mitglied des deutschen Bundestages. Ich bin verpflichtet, mich für die Interessen der Wählerinnen und Wähler einzusetzen. Ich lasse mich auch nicht einschüchtern, genau das wollen die ja. Aber ich bin der Auffassung, dass es auch Schutzmaßnahmen geben muss für die Familien von Politikerinnen und Politikern, wenn sie hier attackiert und bedroht werden.
Das Interview führte Ulrike Römer im WDR 5 Morgenecho vom 09.06.2016.
Für eine bessere Rezeption weicht die schriftliche Fassung des Interviews an einigen Stellen vom gesendeten Interview ab und kann teilweise gekürzt sein. Die intendierte Ausrichtung der Fragen und Antworten bleibt dabei unberührt.
Quelle: WDR5